2022 // Jahresrückblick – Part 1: Alberts Top 50 Alben des Jahres

Heute startet der Jahresrückblick von Track17. Albert macht den Anfang und präsentiert seine 50 Alben des Jahres.

Der Fahrplan:
10. Dezember: Alberts Top 50 Alben des Jahres
12. Dezember: Christophers Top 100 Songs des Jahres
13. Dezember: Christophers Top 50 Alben des Jahres
16. Dezember: Feature 31 – Track17: Der Jahresrückblick und die Alben des Jahres

Vorbemerkung: Es fällt mir schwer, Musik nach leistungssportlichen Kriterien zu beurteilen. Vor allem deshalb, weil die meisten Alben stilistisch nicht miteinander zu vergleichen sind. Ich musste mir schon erheblich einen abbrechen, um die Top 20 zu erstellen, bei den Plätzen 21 bis 50 habe ich kapituliert und auf eine Reihenfolge verzichtet. Die Alben sind in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Weil ich alle meine Kinder gleich liebhabe, gilt für die gesamte Liste: Platz 50 und Platz 1 sind weniger weit voneinander entfernt als ein Elektron vom Atomkern, also ungefähr 10−10 m.

Z–S

Das moody Yacht-AOR-Pop-Album des Jahres kommt von The Zenmenn & John Moods und heißt nicht nur so, sondern ist auch ein HIDDEN GEM. Factory-Floor-Mitglied Nik Colk Void hat mit BUCKED UP SPACE ein astreines Techno-Album herausgebracht. Die norwegisch-mexikanische Klangkünstlerin Carmen Villain präsentiert auf ihrem fünften Album ONLY LOVE FROM NOW ON eine Jazz-beeinflusste Version von experimentellem Ambient. Ihre Kollegin Christina Vantzou experimentiert auf Album NO. 5 in der Grauzone von Ambient und Neo-Klassik. Und Jason Pierce kann auch nach über 30 Jahren Space-Rock-Psychedelia mit Spiritualized nichts falsch machen. Der Beweis: EVERYTHING WAS BEAUTIFUL.

S–M

Buchla-Synth-Meisterin Kaitlyn Aurelia Smith und ihre New-Age-Electronica auf LET’S TURN IT INTO SOUND. Ambient-Schlieren und minimalistischer Folk verbindet Helen Ballentine auf QIUET THE ROOM, ihrem Debütalbum als Skullcrusher. Wo die zeitgenössische elektronische Musik ihre Repetitionslust her hat, zeigt Minimal-Music Altmeister Steve Reich mit den zwei Kompositionen auf RUNNER / MUSIC FOR ENSEMBLE AND ORCHESTRA. Tess Parks und ihr Zeitlupen-Psychedelic Rock auf AND THOSE WHO WERE SEEN DANCING. Der streicherdominierte Ambient-Jazz des Multiinstrumentalisten Makaya McCraven auf IN THESE TIMES.

J – F

Jockstrap und ihr weirder Prog-Musical-LoFi-Indie auf I LOVE YOU JENNIFER B, hoffentlich können sie das Niveau auf ihrem nächsten Album halten. Zeitgenössische klassische Musik so impressionistisch, wie ich es mag, auf dem Debütalbum der Münchener Komponistin Sophia Jani: MUSIC IS A MIRROR. Die Londoner Produzentin Loraine James und ihre fantastischen Umarbeitungen der Kompositionen des Outsider-Komponisten Julius Eastman auf BUILDING SOMETHING BEAUTIFUL FOR ME. Produzent Gold Panda hat mit THE WORK das beste Four-Tet-Album des Jahres herausgebracht. Sträflich falsch bewertet (von mir): das Art-Avant-Hyperpop-Mixtape CAPRISONGS von FKA Twigs.

F–D

Sträflich unterbewertet (von allen): der Kraut-Avant-Jazz der Münchener Band Fazer auf PLEX. Das Album THEORY OF BECOMING des französischen (Film-)Komponisten Evgueni Galperine ist ein gewaltiges Epos, das die Grenzen zwischen Klassik und Ambient und elektronischen und akustischen Sounds aufhebt. Mabe Fratti experimentiert auf SE VE DESDE AQUI mit traditioneller Folk-Musik. Analog zu Platz 4 weiter unten in der Liste. Der englische Saxophonist Alabaster de Plume entwickelt auf GOLD poetische, Jazz-nahe Songentwürfe. Verlässlich wie ein Uhrwerk, aber viel zu gut, um in dieser Liste nicht aufzutauchen: Daphni mit CHERRY.

D–C

Auf den beiden Film/Serien-Scores THE SEED und THE BABY darf Lucrecia Dalt ihre experimentellsten Träume ausleben. Ein „neues“ Album des 1982 verstorbenen Patrick Cowley: MALEBOX mit fantastischem Disco, Hi-NRG und Proto-House. Seit über 40 Jahren macht Ex-Regisseur John Carpenter schon „Stranger Things“-Musik, die plötzlich alle geil finden: HALLOWEEN ENDS und FIRESTARTER.

C–A

Mit YTI⅃AƎЯ dreht Mittelalt-Meister Bill Callahan das Singer-Songwriter-Genre auf Links. Psychedelic-IDM mit gezielt gelegten musikalischen Störfeuern gibt’s auf ITSAME vom anonymen Projekt Brainwaltzera. Black Midi und ihr weirder Prog-Musical-LoFi-Indie auf HELLFIRE, hoffentlich können sie das Niveau auf ihrem nächsten Album halten. Black Country, New Road und ihr weirder Prog-Musical-LoFi-Indie auf ANTS FROM UP THERE, hoffentlich können sie das Niveau auf ihrem nächsten Album halten. Frei nach John Peel: Actress – always different, always the same. Neue EP von meinem liebsten Soundarchitekten.

20
Klaus Schulze
Deus Arrakis

SPV

Der Synthesizer-Pionier Klaus Schulze ist im April im Alter von 74 Jahren gestorben. Er hinterlässt ein gewaltiges Werk, das ab den frühen 1980ern mehrheitlich nur wie ein fernes Echo seiner Pionierleistungen klang. Umso mehr verwundert es, dass ihm mit DEUS ARRAKIS, seinem 47. und letzten Album, ein kleines Meisterwerk gelungen ist, das den Proto-Ambient-Künstler Klaus Schulze in seiner ganzen Vielfalt zeigt. Musik wie ein endloser Fluss, kontemplativ, spooky und symphonisch. Dass das Album in den deutschen Charts auf Platz zwei eingestiegen ist (hinter Rammstein und vor Harry Styles) spricht entweder für den Geschmack des Publikums oder gegen das Chartserfassungssystem.

19
Brian Eno
Foreverandevernomore

Opal

Alle paar Jahre fühlt sich Brian Eno dazu berufen, ein Album mit Gesang aufzunehmen. Die Elektronik-Community wendet sich mit Grausen ab, während die Mitglieder der Rock-Fraktion zustimmend nicken angesichts Enos Entscheidung, endlich wieder einmal „richtige Songs“ zu machen. „Foreverandevernomore“ sitzt zwischen diesen beiden Polen. Eno drückt seine Gefühle und Gedanken angesichts einer zunehmend abgefuckten Welt nicht mit „richtigen Songs“ aus, sondern in einer Sammlung von Ambient-Meditationen, in denen seine Stimme wie eine weitere Soundfläche über den Kompositionen hängt. Die Rock-Fraktion darf sich mit Grausen abwenden.

18
Maya Shenfeld
In Free Fall

Thrill Jockey

Die israelische Avantgarde-Künstlerin Maya Shenfeld ist eine archetypische Vertreterin der Post-Genre-Ära. Sie hat klassische Gitarre und Komposition studiert, in Punk-Bands gespielt, aber auch in Klassik-Kontexten und etwa Werke des gerade wiederentdeckten afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman aufgeführt. Auf ihrem Debütalbum IN FREE FALL kommt diese anything-goes-Attitüde zum Tragen. Mit einer Mischung aus elektronischen und akustischen Instrumenten kreiert Shenfeld eine Musik zwischen Ambient-Drone, Minimalismus, Oldschool-Electronica-Avantgarde und einer manchmal fast pastoralen Anmutung.

17
Kelly Lee Owens
LP.8

Smalltown Supersound

LP.8 hat die walisische Produzentin Kelly Lee Owens ihr drittes Album (don’t ask!) genannt. Atmosphärisch ist es noch dunkler als ihre ohnehin schon dämmerungsgrauen ersten beiden Alben. Das könnte am Avantgarde-Noise-Musiker Lasse Marhaug liegen, der das Album in Oslo produziert hat. Owens schafft das Kunststück, erkennbar zu bleiben und sich trotzdem nicht zu wiederholen. Ihr Dunkel-Techno hat einen deutlichen Industrial-Einfluss, der vor allem in den spooky Effekten und den fetten Beats zu hören ist, die einen schönen Kontrast zu den oft schleppend langsamen Tracks darstellen.

16
Park Jiha
The Gleam

Glitterbeat

Traditionelle Musikinstrumente in einer ganz und gar nicht traditionellen Art einsetzen, das ist die große Kunst der koreanischen Komponistin und Multiinstrumentalistin Park Jiha. Sie fügt die Sounds von Blasinstrumenten wie Saenghwang und Piri und des Saiteninstruments Yanggeum zu einem einzigartigen meditativen Klangstrom zusammen, der nicht weiter entfernt sein könnte vom in Europa so beliebten Ethno-Kitsch. Wir bei Track17 nennen diese Art der musikalischen Meditationen Ambient.

15
Whatever The Weather
Whatever The Weather

Ghostly International

Vielleicht liegt es an einer allgemeinen Bassmusikmüdigkeit, oder an einer speziellen Müdigkeit gegenüber Bassmusik, deren Grime- und Garage-Wurzeln zu sehr hervortreten, dass ich mit der Musik, die Loraine James unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht, sehr wenig anfangen kann (die Ausnahme steht in Abteilung „J–F“ weiter oben). Das glatte Gegenteil gilt für die Musik, die sie als Whatever The Weather veröffentlicht. Es ist das – nennen wir es – Ambient-Projekt der Londoner Produzentin. Auf WHATEVER THE WEATHER – der Vertonung verschiedener Celsius-Temperaturen größer/gleich 0 Grad – lotet James in atmosphärischen Tracks auch noch die letzten Ecken des Genres aus mit und ohne Beat, mit Klavier und geisterhaftem Gesang.

14
Jeremiah Chiu & Marta Sofia Honer
Recordings From The Åland Islands

International Anthem

Es könnte sein, dass das Wörtchen „Ambient“ ein paarmal zu viel in dieser 20er-Liste auftaucht. Why not? Das Album RECORDINGS FROM THE ÅLAND ISLANDS der beiden Improvisationsmusiker*innen Jeremiah Chiu und Marta Sofia Honer aus Chicago ist jedenfalls der Beweis dafür, dass die Chefs von International Anthem mit ihrer Behauptung, kein Jazz-Label zu sein, Recht haben. Chiu und Honer verarbeiten die Eindrücke, die sie bei einem Besuch auf der finnischen Ostseeinselgruppe Åland gewonnen haben. Es ist eine Art instrumentaler Meditationsmusik, teilweise mit folkloristischem Hintergrund, teilweise mit neo-klassischem Einschlag, die streng musikwissenschaftlich ausgedrückt vor allem eines ist: wunderschön.

13
Mary Halvorson
Amaryllis

Nonesuch

AMARYLLIS ist nicht nur eine Pflanzengattung, sondern auch ein Album der amerikanischen Avantgarde-Jazz-Komponistin und -Gitarristin Mary Halvorson. Sie spielt eine explosive, dezent funky Stop-and-go-Variante von Jazz, die ungefähr an dem Punkt der Musikgeschichte angesiedelt ist, an der sich der Free Jazz langsam zugunsten des Spiritual Jazz verabschiedet. Die drei Stücke auf der zweiten Seite der LP wurden mit Band und dem Mivos String Quartet eingespielt, was ihnen eine andere Wirkung verleiht, aber an der Architektur der Tracks nichts ändert.

12
Anteloper
Pink Dolphins

International Anthem

Die Trompeterin Jaimie Branch war eine Konstante des Labels International Anthem aus Chicago, wo sie als Bandleaderin und Sidewoman in den unterschiedlichsten musikalischen Konstellationen mitwirkte. Im August ist Branch mit 39 Jahren viel zu früh gestorben. PINK DOLPHINS, das dritte Album ihres Projekts Anteloper mit dem Schlagzeuger Jason Nazary wurde zwei Monate vor ihrem Tod veröffentlicht. Die Musik ist typisch für das freie Kunstverständnis des Labels mit eleganter Jazziness, elektronischen Infusionen und einem leichten experimentellen Einschlag. Gitarrist Jeff Parker – eine andere Legende der Chicago-Szene – hat das Album produziert und dafür Stunden von improvisierten Anteloper-Aufnahmen zu diesen Tracks kompiliert.

11
Sam Prekop & John McEntire
Sons Of

Thrill Jockey

Eine der Überraschungen des Musikjahres: Mit Sam Prekop (Shrimp Boat, The Sea And Cake) und John McEntire (Tortoise, The Sea And Cakle) legten zwei Chicago-Post-Rock-Veteranen ihr Duo-Debütalbum vor, mit dem sie sich auf scheinbar artfremdes Territorium begaben. Auf SONS OF bewegen sich Prekop und McEntire in teilweise episch langen Tracks zwischen Synth-Pop, Ambient und Deep House. Das mag ungewöhnlich erscheinen, aber nur wenn man diese Musik nicht als die Übertragung von Post-Rock-Formeln in elektronische Kontexte liest.

10
Sault
Air

Forever Living Originals

Immer wenn das noch weitgehend anonyme englische Musiker*innenkollektiv Sault ein Album veröffentlicht – und das geschieht seit Frühjahr 2019 jedes Jahr und manchmal auch mehrmals in einem Jahr –, dann taucht dieses Album in allen Jahresendlisten auf. Ganz bestimmt. Das muss so sein. Das ist Gesetz. AIR aber hat nichts zu tun, mit dem politisch motivierten Soul und R’n’B, mit dem Sault bis dahin in Verbindung gebracht wurden. Es ist eine radikale Abkehr davon, die in Entwürfen zeitgenössischer klassischer Musik und Choralgesängen mündet. Und: Es ist so gut.

09
Bitchin Bajas
Bajascillators

Drag City

Die Tatsache, dass Bitchin Bajas „nur“ ein musikalisches Nebenprojekt sind – von Cooper Grain, dem Gitarristen und Keyboarder der Psychedelic-Kraut-Drone-Band Cave – ist ebenso erstaunlich wie irrelevant. Bitchin Bajas sind eine eigenständige Band, die sogar das Hauptprojekt in den Hintergrund rücken lässt. Auf BAJASCILLATORS rührt das Trio ein Amalgam an aus Minimal Music, Psychedelia und balearischen Anklängen. Xylophone, Flöten und Analogsynthesizer piepsen, quietschen und rumpeln so schön, dass es eine wahre Freude ist.

08
Hinako Omori
A Journey…

Houndstooth

Der Trend geht zum Synthesizer, Hardware und möglichst vintage. Die Produzentin und Musikerin Hinako Omori, eine gebürtige Japanerin, die in England aufgewachsen ist, bestätigt das mit ihrem Debütalbum. A JOURNEY… ist erstens auf dem Londoner Label Houndstooth erschienen und zweitens die musikalische Aufarbeitung der japanischen Naturtherapie Shinrinyoku, die zur Verbesserung der körperlichen und/oder geistigen Gesundheit beitragen soll, indem der Patient etwa ein „Waldbad“ nehmen soll, um eins mit der Natur zu werden. Omori schafft aus den Sounds von Field Recordings und dem flächigen Schönklang modularer Synthesizer ihre ganz eigene musikalische Welt. Das kann man gerne als New-Age-Hippie-Kram ablehnen, oder einfach genießen und sich darüber freuen, dass es Künstler*innen gibt, die sich mit der scheinbar unausweichlichen Denaturierung der Menschen nicht abfinden wollen.

07
Shinichi Atobe
Love Of Plastic

DDS

Über Shinichi Atobe ist nicht viel bekannt. Seine Unlust auf Öffentlichkeit, Gossip und Social Media darf als Reminiszenz an die Techno- und House-Produzenten aus den 90ern gewertet werden, die auch ihre Kunst über ihre Egos stellten. Seit über 20 Jahren veröffentlicht der Japaner elektronische Musik, seine ersten 12-Inches erschienen auf dem Berliner Dub-Techno-Label Chain Reaction von Moritz von Oswald und Mark Ernestus. LOVE OF PLASTIC, Atobes sechstes Album, wurde wie die anderen davor auf DDS veröffentlicht, dem Label des Produzentenduos Demdike Stare aus Manchester. Es ist ein perfektes Deep-House-Album mit verspielten Melodien und oftmals einer zweiten Ereignisebene. Es bounct und wabert, dass es eine wahre Freude ist. Dazu gibt es gelegentliche Abstecher in den Dub-Techno.

06
Shoko Igarashi
Simple Sentences

Tigersushi

Dieses Album ist weit mehr als das Debütalbum einer 31-jährigen Japanerin, die am Berklee College Of Music in Boston studiert und Saxophon gelernt hat. Es ist nicht weniger als die zeitgenössische Umdeutung von japanischem City-Pop, jener ultra-eklektizistischen Musikrichtung, bei der in den späten 70ern und frühen 80ern Pop, Soft Rock, Disco, Funk, Jazz und Exotica zu einer unerhörten Musik verschmolzen wurde. Shoko Igarashi kann auch retro sein, aber sie ergänzt diesen Stilmix mit Einflüssen aus der elektronischen Musik der jüngeren Vergangenheit. SIMPLE SENTENCES ist Jazz-Fusion, „Miami Vice“-Soundtrack-Musik, Breakbeats mit ostasiatischen Einflüssen und japanischer Folk. Oder in anderen Worten: absolut großartig.

05
Anadol
Felicita

Pingipung

Was ist das? Psychedelischer Synth-Folk? Kosmischer Jazz? Experimenteller Krautrock? Alles zusammen, oder nichts von dem? FELICITA ist anders fantastisch und anders wahnsinnig als das fantastisch-wahnsinnige Debütalbum UZUN HAVALAR, das die Berliner Sound-Künstlerin und Fotografin Gözen Atila 2018 als Anadol veröffentlicht und damit einen mittleren Hype verursacht hat. Auf FELICITA lässt Anadol Jazzmusiker aus Istanbul über ihre Synthesizer-Psychedelic-Grundierungen spielen. Eine wunderbare Collage aus Field Recordings, Gesprächsfetzen, Saxophonsoli, Störgeräuschen und Fake Folk. Typischer Fall für die beliebte Rubrik „Andere Musik“.

04
Lucrecia Dalt
¡Ay!

RVNG. Int.

Man durfte die Kolumbianerin Lucrecia Dalt bisher lieben für ihre experimentelle Musik mit elektro-akustischen Konzepten, Modular-Synthesizern, Tape-Manipulationen und Ambient-artigen Entwürfen, in denen immer auch ein Hauch von Pop zu spüren war. Man darf Lucrecia Dalt aber auch dafür lieben, dass sie auf ¡AY!, ihrem achten Album, etwas komplett anderes macht. Nämlich die Dekonstruktion von Musik aus ihrer Kindheit und Jugend, indem sie lateinamerikanische Stile wie Salsa, Son und Bolero krass entschleunigt und um ihre Tanzbarkeit bringt. Das ist durchaus experimentell, aber die Experimente beschränken sich nicht auf Sounds, sondern auf konkrete Musikrichtungen. Auf diese Wiese entstehen fragile und luftige Songgebilde, deren Architektur durch den permanent wechselnden Einsatz der Instrumente zwischen dialogisch und monologisch in einer windschiefen Balance gehalten werden.

03
Kali Malone
Living Torch

Portraits GRM

Nennen wir es Minimal Drone Music, die die amerikanische Komponistin und Musikerin Kali Malone auf ihrem vierten Album LIVING TORCH präsentiert. Malone, die seit 2012 in Stockholm lebt, ist für ihre Kompositionen für Kirchenorgel bekannt. Und auch wenn sich der kontinuierliche Drone, der „Living Torch I“ unterlegt, anhört, als käme er aus den Orgelpfeifen, stammt er aus dem Arp 2500 Synthesizer. Der Klangteppich wird ergänzt von Posaune und Bassklarinette, die allerdings jenseits der Wiedererkennung bearbeitet werden. In „Living Torch II“ stellen sich die Sounds konkreter auf, die Stimmung wechselt von hypnotisch-mysteriös zu latent bedrohlich.

02
Carla dal Forno
Come Around

Kallista

Für die Australierin Carla dal Forno gilt das Gleiche wie für Lucrecia Dalt von zwei Rezensionen weiter oben. Die Musik, die dal Forno seit 2016 als Solistin veröffentlicht hat, war immer ähnlich, aber nie gleich. Mit COME AROUND bringt sie ihr Konzept des Minimal-Pop jetzt zur Vollendung. Die Songs kommen in einem dream-poppigen Ambiente und weit offenen Räumen, der Bass führt als Hauptinstrument durch die verhallten Songs, die anderen Instrumente setzen allenfalls ein paar Duftmarken. Carla dal Forno nimmt den Minimalismus wörtlich, auf COME AROUND wird keine Note zu viel gespielt. Das Album des Jahres für alle, die sich schon immer ein zweites von Young Marble Giants gewünscht haben.

01
Shabaka
Afrikan Culture

Impulse!

Der Jazz hat in seiner über 100-jährigen Geschichte immer wieder Höhen und Tiefen erlebt. Man kann darüber streiten, ob die meisten Tiefen nicht wahrnehmungsbedingt waren, oder besser: bedingt durch die Nichtwahrnehmung von ignoranten Zeitgenossen. Unbestritten aber ist, dass Jazz immer dann am interessantesten war, wenn er sich seiner afrikanischen Wurzeln besonnen hat. Was relativ früh in den 60er-Jahren geschah durch die Politisierung der Musik als Ausdruck eines neuen Schwarzen Selbstbewusstseins. Dass Jazz gerade wieder einmal einen Höhenflug erlebt, liegt daran, dass er nicht mehr nur als eine Musik gesehen wird, die von Studienräten gehört und gespielt wird. Dafür verantwortlich sind junge Schwarze Musiker wie Shabaka Hutchings, Multi-Blasinstrumentalist aus London, der mit seinen Bands Sons Of Kemet, The Comet Is Coming und Shabaka And The Ancestors zur wichtigsten Figur des neuen Jazz in Großbritannien geworden ist. Auf seinem ersten Soloalbum AFRIKAN CULTURE entbietet er den afrikanischen Wurzeln des Jazz seine Referenz. Shabaka spielt mit afrikanischen Instrumenten, Bambusflöten, Harfen, Glocken und diversen Percussioninstrumenten eine Musik, die weder Jazz noch afrikanisch ist, sondern irgendwo dazwischen in einem Bereich, der so bunt ist, dass sich der Ausdruck Grauzone verbietet. Manchmal scheint es mit ihm durchzugehen, und er spielt die Blasinstrumente auf eine jazzige Art, das hält aber nicht lange an und ist bei weitem nicht so expressiv wie die Musik, die er mit seinen anderen Projekten macht. Hier bleibt alles schön im ruhigen, introspektiven Bereich. Ein wahres Wunderwerk von Album.

Hier geht’s zu allen Review-Folgen des Podcasts im Jahr 2022, in denen wir die meisten dieser Alben ausführlich vorgestellt haben.

Alle wichtigen Links auf einen Blick

Christopher: Twitter / Instagram
Albert Koch: Instagram
Track17: Twitter / Instagram / Facebook

1 comment on “2022 // Jahresrückblick – Part 1: Alberts Top 50 Alben des Jahres

  1. Markus sagt:

    Schön, hier noch Entdeckungen tätigen zu können. Auch, wenn ich beispielsweise das neue Atobe-Album nach den letzten Veröffentlichungen etwas langweilig finde und besonders das “I Could Be Your Dog / I Could Be Your Moon” als das deutlich bessere Kaitlyn-Aurelia-Smith-Werk ansehe – chapeau zu so viel eigenem Duktus in der Playliste.

    Als häufiger Podcast-Hörer wünsche ich mir fürs nächste Jahr ein bisschen mehr Zoff und Interaktion statt Monologe über die besprochenen Alben.

    Habt es fein!
    Markus

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