2023 // Jahresrückblick – Part 1: Alberts Top 50 Alben des Jahres

Heute startet der Jahresrückblick von Track17. Albert macht den Anfang und präsentiert seine 50 Alben des Jahres.

Der Fahrplan:
12. Dezember: Alberts Top 50 Alben des Jahres
13. Dezember: Christophers Top 100 Songs des Jahres
14. Dezember: Christophers Top 50 Alben des Jahres
15. Dezember: Feature 44 – Track17: Der Jahresrückblick und die Alben des Jahres

Vorbemerkung:

Alle Jahre wieder kommt, einem Mantra gleich, die Erklärung meiner Hassliebe für Jahresbestenlisten. Es fällt mir schwer, Musik nach leistungssportlichen Kriterien zu beurteilen. Nicht nur, weil die meisten Alben stilistisch überhaupt nicht miteinander zu vergleichen sind. Ich musste schon mit mir kämpfen, um meine Top 20 zu erstellen. Warum soll das Album auf Platz 6 besser sein als das auf Platz 7, wo ich doch beide zu gegebener Zeit sehr gerne höre? Bei den Plätzen 21 bis 50 habe ich kapituliert und auf eine Reihenfolge verzichtet. Die Alben sind in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge aufgeführt.

Die meisten Magazine, für die ich schreibe, veröffentlichen zum Jahresende hin die Bestenlisten ihrer Autoren. Manche davon fordern aus produktionstechnischen Gründen diese Listen bereits im Oktober. Weil aber bis zum Jahresende immer noch Alben veröffentlicht werden, die niemand auf der Rechnung hat, ist meine Liste ständigen sanften Anpassungen unterworfen. Bei der folgenden handelt es sich um die vierte leichte Überarbeitung meiner ursprünglichen Bestenliste.

Bestenlisten sind Nerd-Quatsch, aber ich mache diesen Nerd-Quatsch gerne mit. Aber weil ich alle meine Kinder gleich liebhabe, gilt für die gesamte Liste: Platz 50 und Platz 1 sind weniger weit voneinander entfernt als ein Elektron vom Atomkern, also ungefähr 10−10 m.

Plätze 50 bis 21 von Z bis A (keine Rangfolge)

µ–To

Mike Paradinas, Gründer des Labels Planet Mu, mit einem weiteren Album unter seinem Alias µ-ziq: „1977“ ist ein im weitesten Sinne Ambient-Album und natürlich ganz fantastisch. Alleskönner Levon Vincent hat mit „Work In Progress“ ein klassisches House-Techno-Album gemacht. Streichinstrumente, Alltagsgeräusche und elektronisch manipulierte Sound kommen auf „Syenite“ von der vietnamesischen Künstlerin Lý Trang zusammen. Das ist Elektro-Akustik 2.0. „Mind Maze“ heißt Album Nummer 5 von Trees Speak, der Kraut-Psychedelia-Synth-Wave-Band aus Arizona. Darauf gibt’s, nun ja, wunderbaren Kraut-Psychedelia-Synth-Wave. Detroit-Techno-Legende Jeff Mills, Keyboarder Jean-Phi Dary und Tabla-Spieler Prahbu Edouard nennen ihr gemeinsames Projekt Tomorrow Comes The Harvest. Das Album „Evolution“ ist eine wunderbare Fusion aus jazziger Improvisation, Fourth World Music, House und Four-to-the-flour Techno-Beat.

Te–S

Die Brüder Andi und Hannes Teichmann sind bekannt als experimentelle Techno-Produzenten und DJs. Mit ihrem 80-jährigen Vater Uli, ein Saxofonist, haben sie als Teichmann & Soehne das Album „Flows“ aufgenommen. Ein fantastisches Stück elektronisch-jazziger Grenzmusik. „Electronic Music Improvisations Vol. 2“ ist das zweite Album von Sunroof, dem Projekt von Mute-Label-Gründer Daniel Miller und Depeche-Mode-Produzent Gareth Jones: abstrakte Improvisationen auf analogen Modularsynthesizern. Der Indie-Folk-Held Sufjan Stevens kann auch elektronische Musik und, wie hier, Ballettmusik. „Reflections“ ist eine Komposition für zwei Pianos, irgendwo zwischen Spätromantik und Moderne. Sam Shackleton hat sich im Lauf der Jahre vom Dubstep-Pionier zum psychedelischen Experimentierer entwickelt. Zusammen mit dem japanischen Musiker Shigeru Ishikawa hat er als Scotch Rolex & Shackleton das Album „Death By Tickling“ veröffentlicht – sein erstes von drei im Jahr 2023: ein perkussiver Trip mit tribalistischem Drumming und ungeraden Rhythmen. Oldschool-Buchla-Synth-Vibes verbreitet Saloli, die Pianistin Mary Suton aus Portland, Oregon, auf ihrem zweiten Album „Canyon“.

P–Mar

Always different, always the same: David Thomas‘ Avant-Punk-Legenden Pere Ubu mit ihrem hundertdrölfundneunzigsten Album seit 1978: „Trouble On Big Beat Street“. Alleskönner Jim O’Rourke hat den Soundtrack zu Kyle Armstrongs – nennen wir’s Mystery Western – „Hands That Bind“ aufgenommen. Das ist eine atmosphärisch ultradichte elektro-akustische Fantasie, Musik wie Landschaftsmalerei. Die Japanerin Hinako Omori und ihr zweites Album „Stillness, Softness“ mit Ambient-beeinflusstem Leftfield-Pop. Die ganze Bandbreite zwischen Beatmaking, Ambient und New Age fächert MatthewDavid auf seinem Album „Mycelium Music“ auf. Mit der Wohlfühl-Einlull-Musik des Pianisten Richard Clayderman hat „Romantic Piano“ von Gia Margaret nichts zu tun, das ist minimalistische Klaviermusik unter Einbeziehung der Ambience des Raumes.

Mal–F

Längster „Bandname“ in dieser Liste: Kali Malone Featuring Stephen O’Malley & Lucy Railton. „Does Spring Hide Its Joy“ ist ein dreistündiges Drone-Epos, auf dem Synthesizer, Gitarre und Cello zu einem ständig variiertem Klangstrom verschmelzen. Zweiter Auftritt Jim O’Rourke. Diesmal mit seiner persönlichen und musikalischen Partnerin, der japanischen Künstlerin Eiko Ishibashi. „Lifetime Of A Flower“ ist ein Amalgam aus Sounds, Rhythmen, Melodien, Bleeps und Plongs, eine 43-minütige elektro-akustische Sinfonie. Oscar-Gewinner Volker Bertelmann mal wieder mit einem Album als Hauschka. „Philanthropy“ ist Musik für präpariertes Piano zwischen Neo-Klassik, zeitgenössischer Kammermusik und Experimentiererei. Erik Hall, Multiinstrumentalist aus Chicago, und seine Interpretation von „Canto Ostinato“ des niederländischen Komponisten Simeon Ten Holt. Wie Techno, nur anders. Aus der beliebten Serie „ungewöhnliche Paarungen“: Fred Again & Brian Eno haben mit „Secret Life“ ein pointilistisches Ambient-Album gemacht, klingt wie The xx auf halber Geschwindigkeit abgespielt.

E–Bo

Der kleine Bruder kann’s auch: Roger Eno setzt sich auf „The Skies, They Shift Like Chords“ zwischen alle Genre-Stühle. Impressionistische Musik von Piano solo bis zum Streicherarrangement, mal mit, mal ohne elektronische Unterfütterung. Das zweite Album mit Beteiligung von Kate NV in diesem Jahr: „Ticket To Fame“ hat die russische Experimental-Pop-Künstlerin mit Angel Deradoorian (Ex-Dirty Projectors) im Duo unter dem Namen Decisive Pink aufgenommen. Ein Fest der Möglichkeiten der Werirdness in der elektronischen Musik. Vince Clarke, Gründungsmitglied von Depeche Mode, Yazoo und Erasure verabschiedet sich auf seinem allerersten Soloalbum vom Pop. „Songs Of Silence“ hat wolkenverhangene Soundlandschaften mit düsteren elektronischen Drones. „YIAN“, das Debütalbum der Londoner Musikerin Lucinda Chua, ist eine atmosphärische Erzählung über ethnisches Außenseitertum und Heimatlosigkeit. Piano, Violinen, Cello und Fender Rhodes kreieren eine Atmosphäre zwischen Minimalismus und symphonischer Üppigkeit. Neustart für das DFA-Label. „Morningside“ von Stuart Bogie mit mysteriös-mystischen Klarinettenimprovisationen auf einem Ambient-Drone-Teppich, den Labelchef James Murphy persönlich geknüpft hat

Bi–A

Wer auch nur einen klitzekleinen Fleck in seinem Herzen für Folkmusik frei hat, wird das Album „Keeping Secrets Will Destroy You“ lieben. Beste Songsammlung von Will Oldham a.k.a. Bonnie „Prince“ Billy seit Jahren. Wer danach immer noch ein Folk-Fleckchen zu besetzen hat, hört „Furling“ von Meg Baird. Ein Meisterstück zwischen traditionalistischem Folk, Dream-Pop und vernebelten Songskizzen. Anthony Naples spielt auf „Orbs“ klassischen House, der von einem downbeatigen, Cannabis-vernebelten Soundschleier umgeben ist. Bester Karriere-Move des Jahres: Ex-Outkast-Rapper André 3000 und seine Hinwendung zu experimentellen New-Age-Flötentönen auf „New Blue Sun“. Zwischen ungewöhnlich melodisch und abstrakt: der Soundtrack von Alva Noto zu Marc Wieses Dokumentarfilm „This Stolen Country Of Mine“.

20
Lucy Railton
Corner Dancer

Modern Love

Wahrscheinlich hat die britische Cellistin Lucy Railton mehr Alben als „Sidewoman“ gleichgesinnter Kolleginnen wie Laurel Halo (auf deren Album „Atlas“) und Kali Malone gemacht, als welche unter ihrem eigenen Namen. COLD READING ist erst ihr zweieinhalbtes Soloalbum. Wenn von radikaler Musik die Rede ist, geht es meistens um Lautstärke, Noise und Geschwindigkeit, COLD READING aber ist radikal leise und radikal minimalistisch, aber auch radikal in seiner Definition, was Musik überhaupt ist. Auf ihrem zweiten Album für Modern Love operiert Railton in einer Grauzone zwischen experimenteller elektronischer Musik, zeitgenössischer Klassik und elektroakustischer Komposition. Eines der faszinierenden Alben des Jahres.

19
Thomas Fehlmann
Umdrehen

Edition Dur

Man muss sich nicht schämen, Thomas Fehlmann eine Legende zu nennen. Er war Gründungsmitglied der Avantgarde-Band Palais Schaumburg, Mitinitiator der Techno-Verbindung Detroit-Berlin und ist ein Elektronik-Solokünstler, der vor allem, aber nicht nur auf Kompakt veröffentlicht. Mit UMDREHEN hat Fehlmann aus hausgemachten Samples sein wohl experimentellstes Album bisher aufgenommen. Die grummelnden Dark-Ambient-Tracks, Minimal-Music-Skizzen und dekonstruierten Techno-Tracks interpretiert er mit einem heftigen Augenzwinkern und ohne Gedanken an ihre Funktionalität. Das erinnert an die Berliner Schule der 70er-Jahre, vor allem an die Experimente von Conrad Schnitzler.

18
CV & JAB
κλίμα (Klima)

Editions Basilic

Die Discographie von Christina Vantzou ist eine unübersichtliche und verwirrende Sache. Neben größeren Alben, die leicht die Aufmerksamkeitsgrenze zwischen Underground und Mainstream touchieren (wie zum Beispiel „No. 5“ vom vergangenen Jahr), gibt es unzählige kleine, die nebenherlaufen. So wie „κλίμα (Klima)“, das die amerikanische Musikerin mit ihrem Langzeit-Begleiter John Also Bennett aufgenommen hat. Mit Piano, Flöten, Synthesizer und Percussions entwerfen die beiden eine introspektive musikalische Meditation, die streng musikwissenschaftlich ausgedrückt vor allem eines ist: wunderschön.

17
Sparkle Division
Foxy

Temporary Residence

Eine Forderung aus der Mottenkiste der Kunstrezeption besagt, wer abstrakte Kunst schaffen wolle, müsse doch zuerst einmal beweisen, dass er überhaupt „richtig“ malen kann. Übertragen auf die Musik erfüllt Ambient-Meister William Basinski diese Arbeitsanweisung mit seinem Projekt Sparkle Division aufs Perfekte. Auf „Foxy“, dem zweiten Album des Projekts, packt Basinski sein Saxofon aus und spielt eine Art dekonstruiertes Easy Listening, funky und discoid und mit Schlenkern in Free Jazz und Avantgarde. Und glitzern und funkeln tut diese „richtige“ Musik natürlich wie nur was. Aber warum tragen deutsche Bands eigentlich keine Namen wie „Glitzerabteilung“?

16
Flora Yin-Wong
Cold Reading

Modern Love

Es ist ebenso verwunderlich wie bewundernswert, mit welcher Hartnäckigkeit nicht wenige Künstler*innen sich mit einer Grenzmusik gegen das aktuelle popkulturelle Klima stellen, in dem selbst seriöse Medien am liebsten nur über das Milliardenvermögen von Taylor Swift berichten möchten. Flora Yin-Wong ist so eine Künstlerin. Die Londonerin mit chinesischen und malaysischen Wurzeln spielt auf ihrem zweiten Album einen verwaschenen Nightmare-Pop, manchmal mit sehr offensichtlichen asiatischen Einflüssen, Dark-Ambient-haft, dann wieder sehr perkussiv, atmosphärisch dicht, und manchmal ins Atonale abgleitend. Musik wider die Aufmerksamkeitsökonomie und den ganzen Affirmationsscheiß.

15
Suzanne Ciani & Jonathan Fitoussi
Golden Apples Of The Sun

Obliques

Elektronikpionierin, Sounddesignerin für Werbung, Computerspiele und vieles andere, was piept und fiept: Die Amerikanerin Suzanne Ciani ist mittlerweile 77 Jahre alt und eine lebende Legende. Für das Album „Golden Apples Of The Sun“ hat sie sich mit dem 45-jährigen französischen Komponisten Jonathan Fitoussi zusammengetan. Es gibt flächige, atmosphärische Tracks mit organisch perlenden Synthesizern, die nicht erst seit Four Tet für Entzücken sorgen, aber auch pulsierende Rhythmen und Tracks die direkt aus der Vergangenheit des Space-Age-Pop ins Hier und Jetzt gekommen zu sein scheinen.

14
Niecy Blues
Exit Simulation

Kranky

Erfinden wir doch einen neuen Genrebegriff für die ganz wunderbare Musik auf dem Debütalbum von Niecy Blues: hauntologischer Dream-Soul-Ambient. In guter Dekonstruktionsmanier nimmt die Musikerin aus South Carolina unauffällige Bausteine aus Ambient, Dreampop, Grouper und anderer Musik des Kranky-Labels, R’n’B und Gospel, baut sie neu zusammen und macht die Nebelmaschine an, damit alles schön im Ungefähren bleibt. Man mag alle Bestandteile dieser Musik schon irgendwo anders gehört haben, in dieser Kombination aber entsteht etwas Unerwartetes und Neues.

13
Moritz von Oswald
Silencio

Tresor

Viel wichtiger als seine historische Rolle als Miterfinder des Dub-Techno und Mitinitiator der Techno-Achse Berlin-Detroit in den 90er-Jahren ist Moritz von Oswalds Position in der Gegenwart. Ein Künstler, der ganz unretromanisch weiter musikalische Feldforschung betreibt. Auf „Silencio“ untersucht von Oswald die Verbindungen von abstrakten Synthesizersounds und menschlichen Stimmen – zusammen mit dem 16-stimmigen Chor Vokalconsort Berlin. Manchmal dominiert der Chor, oft aber verschmelzen die Ambient-nahen Soundscapes, die von Oswald auf Hardware-Synthesizern eingespielt hat, mit den menschlichen Stimmen, so dass keine Unterschiede mehr zwischen den Soundquellen auszumachen sind.

12
Actress
LXXXVIII

Ninja Tune

Für sein neuntes Album hat Darren Cunningham einen theoretischen Überbau errichtet: Die Komplexität des Schachspiels als Analogie auf die Komplexität der Produktion abstrakter elektronischer Musik. Man muss sich gar nicht auf diesen durchaus plausiblen Gedankengang einlassen, um „LXXXVII“ genießen zu können. Das Album ist ein weiterer Baustein auf dem Weg der Komplettierung des wahrscheinlich gewaltigsten Gesamtwerks der zeitgenössischen experimentellen elektronischen Musik. Actress nimmt sich Elemente aus Bass-Musik, UK-Garage, Dark Ambient, und Techno und collagiert sie zu dunkelgrauen, dystopischen Tracks, die in einem verhallten Raum gefangen sind – mit Ausschlägen zum Acid House und auf den Mainfloor.

11
Ryuichi Sakamoto
12

Commons

Als musikalisches Tagebuch seiner Krebserkrankung entwarf Ryuichi Sakamoto die musikalischen Skizzen mit Synthesizer und/oder Piano auf seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Album. Die Kompositionen bewegen sich zwischen Dark-Ambient-Entwürfen, impressionistischen Klavierstücken und atonalen Abstraktionen. Manchmal wechselt die dunkelgraue Grundstimmung des Albums, die als Ausdruck von Sakamotos Gefühlswelt interpretiert werden muss, ins Bedrohliche. „12“ wurde am 17. Januar veröffentlicht, Ryuichi Sakamotos 71. Geburtstag, zwei Monate danach starb der Künstler in Tokio.

10
Matana Roberts
Coin Coin Chapter Five: In The Garden

Constellation

Es ist ein Glück, dass Matana Roberts ihre Karriere schon Anfang der 00er-Jahre begonnen hat. Zu früh, um ihr das mittlerweile hippe Etikett „New Jazz“ anzuheften. In der auf zwölf Teile angelegten „Coin Coin“-Serie erzählt die Saxofonistin aus Chicago die Emanzipationsgeschichte der Afroamerikaner anhand ihrer eigenen Familienhistorie. Im fünften Teil trifft Free Jazz auf Post Rock, Folk auf Noise und Improvisation, Geigen, Chöre und hörspielartige Soundcollagen. Ganz im Sinne der Association For The Advancement Of Creative Musicians (AACM), die in den 60er-Jahren in Chicago gegründet wurde – zur Renovierung und Re-Politisierung des Jazz.

9
Loopsel
Öga For Öga

DFA

Mehr introspektiven Pop-Folk-Ambient? Da bietet sich „Öga For Öga“ an, das zweite Album von Loopsel, dem Projekt der schwedischen Musikerin Elin Engström. Das Album klingt wie aus einem Guss, alles wirkt leicht verhallt und verwischt. Diese einheitliche Soundästhetik könnte leicht zur Annahme verleiten, dass jeder Song hier gleich klingt. Das stimmt aber nicht. Was gleich klingt, ist die Atmosphäre, die Songs aber sind sehr unterschiedlich, sie pendeln zwischen Ambient, Pop, Folk und Einflüssen von The Cure. Mit Gesang und ohne, lieblich und düster, abstrakt und konkret – hier sind alle Gegensätze vorhanden.

8
Laraaji & Kramer
Baptismal – Ambient Symphony #1

Shimmy Disc

Laraaji alias Edward Larry Gordon ist eine lebende Legende. Der 80-jährige Zitherspieler ist neben Brian Eno der einzige Solokünstler, der Teil der legendären „Ambient“-Albumreihe war. Für „Baptismal“ hat er sich mit dem befreundeten (Mark) Kramer zusammengetan, dem 58-jährigen Gründer des Shimmy-Disc-Labels. Laraajis elektrische Zither hat einen hohen Wiedererkennungswert, und so wundert es, dass sie nur auf einem Track in ihrer ganzen Konkretheit zu hören ist. Ansonsten wird der Klang des Instruments heftig bearbeitet und geht auf in wunderbar abstraktem Ambient, zwischen dunkel-brodelnden Drones und hellem, pointilistischem Getupfe. „Baptismal“ ist irgendwie in der Old-School-Ambient-Welt verhaftet, aber dann auch wieder von einer Zeitlosigkeit.

7
Marlene Ribeiro
Toquei no Sol

Lovers & Lollypops

Wer beim Adjektiv „experimentell“ im Zusammenhang mit Musik sofort Hautausschlag bekommt, weiß vermutlich nicht, dass experimentelle Musik sehr gut mit Songwriting zusammengehen kann. Man muss nur wissen, wie. Marlene Ribeiro weiß wie, und das zeig sie auf ihrem Solodebüt „Toquei no Sol“. Auf wunderbare Weise erzeugt die portugiesische Musikerin mit Instrumenten und Nicht-Instrumenten wie Haushaltsgegenständen eine Mischung aus Psychedelia, Folk, Dream Pop, Musique concrète und verschleppten Latin-Rhythmen. Musik, die keine Grenzen kennt, keine stilistischen und keine, die definieren würden, was ein Musikinstrument überhaupt ist.

6
Golden Diskó Ship
Oval Sun Patch

Karaoke Kalk

Sorry, ich kann einfach nicht anders, als alles, was Theresa Stroetges seit 2008 unter dem Namen Golden Diskó Ship veröffentlicht, gut zu finden. Das fünfte Album der Berliner Multiinstrumentalistin und Video-Künstlerin ist da keine Ausnahme. Auf „Oval Sun Patch“ gibt’s großartigen Meta-Pop aus Folk und Mikroelektronik, Field-Recordings, Spurenelementen von Techno und House, hymnischen Synth-Pop, kontemplativen Gitarrenimprovisationen und überlebensgroßem Prog. Und das alles ist unter dem Strich nur: Pop.

5
Martina Bertoni
Hypnagogia

Karlrecords

Alben, die am Anfang eines Jahres veröffentlicht werden, haben es dann bei der Endabrechnung meistens schwer. Oft fallen sie der Aufmerksamkeitsökonomie zum Opfer, weil in zwölf Monaten sehr viele Säue durchs globale Pop-Dorf getrieben wurden. An „Hypnagogia“ von der Cellistin und Komponistin Martina Bertoni aber erinnern wir uns gerne. Es ist eine sanfte Gewalt zwischen Drone, Ambient und zeitgenössischer Komposition. Immer wieder schälen sich melodische Fragmente aus dem Klangstrom heraus, der in der Hauptsache aus manipulierten und verfremdeten Celloklängen besteht. Das Cello ist die Gitarre des 21. Jahrhunderts, zumindest bei mir.

4
Hilary Woods
Acts Of Light

Sacred Bones

Die beiden ersten Soloalben von Hilary Woods waren ja auch schon ganz großartig. Aber angesichts von „Acts Of Light“ wirkt es fast so, als hätte die irische Musikerin die Alben nur gebraucht, um daraus dieses Meisterwerk zu synthetisieren, eine minimalistische Drone-Komposition in neun Teilen. Woods dekonstruiert Streichersamples, Field Recordings, Cello, Viola, elektronische Manipulationen und die Stimmen zweier Chöre bis an den Rand der Erkennbarkeit. Daraus ergibt sich ein mächtiger, brodelnder und rumorender Klangstrom, an dessen Ufer das Songformat steht und wehmütig herüberwinkt.

3
Saeko Killy
Morphing Polaroids

Bureau B

Track 17 ist ja der Fach-Podcast zum Thema Transzendierung von House und Techno in eine andere Art von Musik, für die noch niemand einen Genre-Begriff erfunden hat. Genau in diese Kategorie fällt „Morphing Polaroids“, das Debütalbum von Saeko Killy. Die japanische Musikerin und DJ, die eigentlich Saeko Okuchi heißt, lebt seit ein paar Jahren in Berlin und legt dort u.a. im Club Sameheads auf. Mit vier Jahren hat sie angefangen, Klavier zu spielen, später Gitarre. In der Plattensammlung ihrer Eltern hat sie Jazz und brasilianische Musik für sich entdeckt, später auf Techno-Partys elektronische Tanzmusik aufgelegt, aber auch Industrial-Bands wie Cabaret Voltaire und Throbbing Gristle. Diese musikalischen Einflüsse schreien aus dem Album nicht unbedingt entgegen, aber man hört ihm an, dass Saeko Killy sich keine musikalischen Grenzen setzt. Es ist elektronische Tanzmusik, die sehr stark vom Dub beeinflusst ist, der Bass steht im Vordergrund, dazu gibt’s verhallte Effekte und den Sprechgesang der Künstlerin, mal auf Japanisch, mal auf Englisch. So ist ein faszinierendes Album entstanden aus Versatzstücken von Dub, House, Post-Punk, experimentellem Krautrock. Ohrenscheinlich ist Saeko Killys Liebe zu kleinen Sounddetails. Sie sind das Salz in der Suppe von „Morphing Polaroids“, jeder einzelne Track des Albums ist eine Sensation für sich.

2
Kate NV
WOW

RVNG Intl.

Kate NV, wie sich die russische Produzentin Ekaterina Shilonosova nennt, hat die seltene Fähigkeit, innerhalb eines bestimmten Soundspektrums – hier grob vereinfacht ausgedrückt: Synth-Pop – eine wahnsinnige stilistische Breite aufzufahren. Ihr Album „For“ von 2018 war Laptop-Electronica mit Anklängen an die Synthesizerpioniere aus den 60er-Jahren. „Room For The Moon“ zwei Jahre später war beeinflusst von russischer und japanischer Musik, wobei das Japanische präsenter war, was sich in der Verspieltheit und einem Leck-mich-am-Arsch-Gefühl beim Genre-Hopping ausgedrückt hat. Auf „Wow“ arbeitet Kate NV die japanischen Einflüsse noch mehr heraus. Ihr fünftes Album ist ein Patchwork aus unverschämten Pop-Dekonstruktionen, wie sie von japanischen Künstler*innen wie Haruomi Hosono, Akiko Yano oder Yasuaki Shimizu in den 70er und 80er-Jahren entworfen wurden. Was in seinem Kern wie Pop wirkt, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt, wird von Kate NV mit kindlich-spielerischen Kleinigkeiten versehen, oft klingen die Tracks wie extended Versions von Computerspielmusik, Spiel- und Flipper-Automaten-Sounds. Auf „Wow“ trifft Pop, der kein richtiger Pop ist auf Avantgarde, die keine richtige Avantgarde ist. Und das ist doch mal was.

1
Laurel Halo
Atlas

Awe

Das Gegenteil von Kate NV, zumindest was die Herangehensweise an Musik betrifft, ist Laurel Halo. Für die 38-jährige Klangkünstlerin, die seit einiger Zeit in Los Angeles lebt, ist Musik ein serious business. „Atlas“ ist ihr fünftes Album und stützt die These von Halos Alleinstellungsmerkmal: Sie hat noch nie ein Album zweimal gemacht. Ihre ersten beiden Alben „Quarantine“ und „Chance Of Rain“, 2012 und 2013 auf dem Hyperdub-Label erschienen, waren Experimente, die damals aktuelle Clubmusik, die ja von Hyperdub stark beeinflusst war, in eine Anti-Clubmusik zu verwandeln. Mit ihrem dritten Album „Dust“ hat Halo 2017 das Konzept der Dekonstruktionen von Club-Musik zur Vollendung gebracht. Das Thema war ausgereizt, Zeit, sich anderen Dingen zuzuwenden. Zum Beispiel im Jahr 2020 dem Soundtrack zu dem Film „Possessed“, der in der Wahrnehmung ein bisschen untergegangen ist, weil Soundtracks oft nicht so ernst genommen werden wie reguläre Alben. „Possessed“, das sie u.a. mit dem London Contemporary Orchestra aufgenommen hat, war ein Stück zeitgenössischer Avantgarde-Komposition. Das ist Genre-Bending: Eine Elektronik-Musikerin, die „richtige“ Instrumente gelernt hat, wird am Anfang mit Clubmusik assoziiert – obwohl das damals schon nicht hundertprozentig richtig war, weil ihre Beats zu ungerade waren für den Club – und hat sich ein Jahrzehnt später zu einer Musikerin entwickelt, die in der Grauzone zwischen Ambient und zeitgenössischer Komposition arbeitet. Und genau da macht Laurel Halo mit „Atlas“ weiter. Es ist ein konstanter Fluss aus Sounds, bei dem sich die elektronischen Bestandteile mit „echten“ Instrumenten verbinden: Saxofon, Cello, Violinen und wortloser Gesang. Laurel Halo selbst spielt Klavier, Gitarre, Vibraphon, Violine und sorgt für das elektronische Backing. Lucy Railton spielt Cello, Bendik Giske Saxofon und James Underwood Violine und Coby Sey singt auf einem Track. Die Musik ist sehr reich an unterschiedlichen Texturen und musikalischen Farben, Instrumente tauchen auf und verschwinden wieder, der Klang der Instrumente bleibt größtenteils identifizierbar, vor allem der der Streicher, was oft den Eindruck vermittelt, als ob ein großes Orchester zu hören wäre. Besser wird’s nicht.

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