2022 // Top 50 Alben des Jahres von Christopher – Jahresrückblick Part 3

Teil 3 des Jahresrückblicks von Track17 mit den Top 50 Alben des Jahres von Christopher. Hier geht’s zu den Top 50 Alben von Albert und den Songs des Jahres.

 

(artwork über midjourney: “big concert in the videogame elden ring”)
 

50 – 46

50_ PVA – BLUSH
49_ Crack Cloud – Tough Baby
48_ Shinichi Atobe – Love Plastic
47_ Prins Thomas – 9
46_ ISOR29 – Moon Phase Gardening

Während PVA sich an der Vorstufe zum bratzigen Indiesleaze befinden und ca. 2006 ihr obligatorisches INTRO-Cover bekommen hätten, kommt der theatralische Post-Punk-Pomp von Crack Cloud mit einer überkandidelten und ans Herz gehenden Ode an die Kunst um die Ecke. Daneben blubbern die eleganten Beats von House-Enigma Shinichi Atobe, der mit seinem Electro auf DDS nichts außer seiner Musik für sich sprechen lässt. Aus der Cosmic Disco des Norwegers Prins Thomas stolpernd blicken wir danach auf den Sonnenaufgang, im Ohr noch immer seine krautig pluckernden Midtempo-Beats. Ahnung von Mondphasen habe ich danach nur bedingt, aber das pluckernd-krautige Beatgeschiebe von ISOR29 hat auch mir ein paar kosmische Gartenhandschuhe angezogen.

45 – 41

45_ Sinead O’Brien – Time Bend And Break The Bower
44_ Robocobra Quartet – Living Isn’t Easy
43_ Hagop Tchaparian – Bolts
42_ Fort Romeau – Beings Of Light
41_ The Orielles – Tableau

Sinead O’Brien ist als Speedy-Wunderground-Alumni mit dem Talent und der Coolness ausgestattet auch mehr als eine halbe Stunde lang ihren ungewohnt pumpenden Sprechsing-Post-Punk so zeitlos klingen zu lassen, als käme er aus drei Dekaden gleichzeitig, während der Drummer/Songwriter vom Robocobra Quartet das Singen für ebenso überflüssig hält und zwar ein bisschen zu oft das Wort Urin benutzt, dabei aber funky genug bleibt. Die größtenteils in Armenien durchgeführte akustische Spurensuche von Hagop Tchaparian gibt derweil wuchtige Nachhilfe in all things Drums in House-Musik und Fort Romeau schraubt knochentrockene Funk-Houser in amerikanischen Clubs zusammen. Drei Alben nach “Sugar Tastes Like Salt” haben außerdem The Orielles ihren 60s infused Pych-Indie-Pop noch spaciger und noch ein bisschen abseitiger angeordnet.

40 – 36

40_ Sophia Blenda – Die neue Heiterkeit
39_ Romare – Fantasy
38_ Laila Sakini – Paloma
37_ Yuta Matsumura – Red Ribbon
36_ CTM – Babygirl

Sophia Blenda lässt Band Culk und ihre Gitarre zurück und textet gewohnt poetisch über den Moment, an dem das Lachen verstummt, welches spätestens in der fantasievollen und voller 70s-Referenzen steckenden Hörspiel-Folk-Electronica von Romare wiederkommen muss. Laila Sakini errichtet oberhalb des Kellers auf ihrem neuen Mini-Album eine wunderschöne Parallelwelt der minimalen, geisterhaften Kammer-Klassik aus Klavieren und Flöten. Yuta Matsumura schmeißt die bisherigen Wikipedia-Einträge zum Begriff Pop über Bord und stolpert ihn mit verrauscht-genöltem Mir-doch-egal-Habitus in zurecht verwirrte Gehörgänge und CTM denkt Pop als souligen, experimentellen Balladen-Trip-Hop, der kein Jahrzehnt kennen will.

35 – 31

35_ Wu-Lu – LOGGERHEAD
34_ Daphni – Cherry
33_ Moin – Paste
32_ Anadol – Felicita
31_ Steffi – The Red Hunter

Wu-Lu hat ein Album erst geschrieben und geschrien und zwar über ein London, das nicht mehr sein darf. Breaks, Skate-Punk, Grime und Post-Punk. So chaotisch wie seine Stadt. Zum Glück auch so faszinierend. Das trocken blubbernde House-Album von Dan Snaiths-Daphni-Projekt mit seinem leichten French- und-Acid-Techno-Touch lässt Hauptjob Caribou endgültig den Kürzeren ziehen und die düster-rhythmische Supergroup Moin um Raime und Valentina Margaretti kommt nochmal etwas fransiger und zickiger mit ihrem scratchy Cut-Up and Paste Post-Rock daher. Anadol mixt weiter alles zusammen, was sich abseits der Trampelpfade kosmisch-komischer Musik richtig anfühlt und hält Ohrensessel-Genres weiter so frisch und dringlich. Steffi hingegen will die Bewegung und ihr astrein durchgestyltes Club-Album zwischen Breaks, Bass und genau so gemeintem Techno kriegt sie auch.

30
LSW
Mir tut alles weh

candomble

Diese neue Düsseldorfer Pop-Weirdness, die auch den Kollegen von Neuzeitliche Bodenbeläge so gut steht wie das ollste Sakko, mit dem im Zweifel auch der verschütterte Cola-Korn aufgewischt wird, ist gleichzeitig irritierend schüchtern und aufmüpfig cool zugleich. Mit dem Arm auf der Jukebox und der Schokozigarette im Mundwinkel dubbt und punkt es sich besonders stilsicher.

29
CS + Kreme
Orange
The Trilogy Tapes

Post-Post-Musik, weil wir das Konzept des Genres im Rahmen dieser akustischen Parallelwelt in eine Kiste gesteckt haben, um sie mit mehreren Ketten und Schlössern von einer hohen Brücke zu stoßen. Hypnotische Alles-Musik, die sich mit dieser Gehirnmassage daran erinnern will, IDM, Ambient und soften Kraut-Techno zu kennen, dabei Seinfeld- Intros versumpft und Glasrisse vertont. Ich weiß es doch auch nicht.

28
Painting
Painting Is Dead
ANTIME

Kunscht-Musik im besten Sinne. Alle suchen sie nach dem Prompt, den man in sein AI-Programm eingeben müsste, um solche Bands zu erschaffen, die man sich nicht ausdenken könnte, selbst, wenn man wollte. Art-Rock, der mehr Performance sein darf, als alle Artverwandten Bläser-und-Groove-Bands dieses Kontinents. Fragezeichen waren noch nie so catchy.

27
Anteloper
Pink Dolphins
International Anthem

Jazz with a mission, der hektische New Yorker Nächte der 70er durchcruist und im Anschluss am Strand die Beine hochlegt und nicht nur auf dem Opener nach Maurice Fultons Drum-House-Projekt Syclops klingt. Es ist zugleich der Abschied von Anteloper-Hälfte und Trompeterin Jaimie Branch, die wenige Monate nach Release des hervorragenden Mini-Albums verstorben ist.

26
ELLES
A Celebration Of The Euphoria Of Life
Eleanor Pinfold

Kennt ihr noch dieses „I can’t wait for the weekend to begin“-Ding der early 00er, zu dem sich Office Worker*innen mit ihrem Hintern auf den Kopierer gesetzt haben? Naja, die Partynacht als fast religiöses Event, gerade in Pandemiezeiten, zieht natürlich. Das Leben für das Wochenende ist für die Britin dumpf klingender Retro-House, Synth-Pop, LoFi-Rave und Electro-Clash und so aufrichtig seinem Konzept unterworfen, dass es einfach nur Spaß macht.

25
Palm
Nicks And Grazes
Saddle Creek


Begeisternder Art-Rock der Band aus Philadelphia, der das Experiment liebt, der die Verwirrung liebt und das Fragezeichen zum favorisierten Satzzeichen erklärt. Aber all diese Nebenschauplätze, Umwege und Abzweigungen stehen im Dienste des Hits und das ist das Entscheidende. Im Herzen ist das Tanzmusik, die immer wieder Haken schlägt und das bei gleichzeitiger Verwunderung darüber, wie so etwas überhaupt funktionieren kann.

24
Christian Naujoks
Soft Mouth Data Service
Mutter-Ey-Press(e)

Naujoks erarbeitet Musik nicht nur für Platten und Bühnen, sondern auch Ausstellungen und sein aktuellstes Projekt, das er in der Galerie Max Mayer performte, wurde nun in ein Album übersetzt, das an seine für mich legendären ersten Alben andockt, auf denen er Neoklassik und elektronische Elemente auf intime und faszinierende Art kombinierte. Zur Performance gehörte übrigens ein Fragebogen für Besucher*innen, die u.A. über bemerkenswerte Erlebnisse in Aufzügen berichten sollten. Was sonst? Außerdem habe ich jetzt das perfekte „Running Up That Hill“-Cover für all meine kommenden Mixtapes. Danke, Christian.

23
Loraine James
Building Something Beautiful For Me
Phantom Limb

Über dieses Album zu sprechen bedeutet über Julius Eastman zu sprechen. Ein zu früh verstorbener queerer Schwarzer Komponist der New Yorker 70er und 80er, den James durch die Bearbeitung seiner Stücke entdecken durfte. Sie bedient sich seiner Musik um zerbrechliche und pluckernde IDM, Klassik- und Ambient-Stücke zu gestalten, die seine Wut, Trauer, aber auch Hoffnung auf spektakuläre Weise übersetzen.

22
Carsten Jost
La Collectionneuse
DIAL

Als Institution für warme, kunstvolle und elegante House-Musik ist das Label DIAL auch mit der einzigen Platte des Jahres seinem Stil beeindruckend treu geblieben und bringt gleich mal Eric Rohmer als Referenz mit. Beats auf dieser Platte irren nicht umher, sie kennen ihr Ziel und lassen nur vereinzelt mitspielende Sounds zu, die den Track bereichern dürfen. Never change, please.

21
Maxine Funke
Pieces of Driftwood
Disciples

Der Outsider-Folk der Songwriterin aus Neuseeland darf eigentlich nur auf den Dachböden verlassener Herrenhäuser gehört werden. Ich mach’ die Regeln nicht. Wer gerade keins zur Hand hat, verpasst zeitlose LoFi-Songs mit quietschenden Gitarren, leiernden Drum Machines und auseinanderfallenden Tape Rekordern. Musik, die sich nicht traut, entdeckt zu werden, dabei hat sie es so sehr verdient. Wow.

20
Coby Sey
Conduit
AD93

Der Brite ruft pro Track mindestens drei Revivals aus. Von Trip-Hop bis Grime ist alles dabei, er nimmt aber die unbequemen Umwege über Noise und Techno, um schroffe, teils sägende Sounds des Undergrounds zu beschwören, die easy listening zum Staatsfeind erklären. In Reverb getunkte Saxofone und wüster LoFi-House werden von Seys Stimme zusammengehalten und so zeitlos das im ersten Moment auch klingen mag, es ist Musik zur Zeit. Zur Zeit des heutigen Großbritanniens.

19
Central
Softness
Help Recordings

Kurz vor Redaktionsschluss fallen mir dann plötzlich die zwei (!) neuen Alben des dänischen Produzenten Central in den Schoss und laufen seitdem fast täglich. Central, der zuletzt als Beatboy für Erika de Casier für Freude und Furore sorgte, aber auch sonst das Nachtleben von Aarhus bereichert, rettet den House in einem Jahr, das sich sonst nicht so sehr für das Genre interessieren sollte. Wohlig warme, von Garage, Techno und Breakbeat gelernte Midtempo-Swinger lassen einen sorgenfreier auf die Rechnung für die neuen, viel zu teuren Kopfhörer schielen.

18
Just Mustard
Heart Under
Partisan Records

Es kann nicht genug Musik geben, die sich um einen kümmert. Die ein Versteck bietet, einen Unterschlupf. Die irische Post-Punk- und Dream-Pop-Band Just Mustard überwindet für mich meine Senf-Aversion und baut ein Zelt aus Gitarren-Noise und Reverb für mich, aus dem ich nicht vorhabe herauszuklettern. Und wer ihren alten Überhit „Frank“ noch nicht kennen sollte, legt ihn sich gleich danach auf den Zahn, während ich recherchiere, ob diese Redewendung überhaupt existiert.

17
Axel Boman
LUZ
Studio Barnhus

Prins Thomas, Central und auch Axel Boman. Wer aus Skandinavien und Umgebung kommen will und House produziert, musste 2022 wohl gleich zwei Alben auf einmal veröffentlichen. Die bessere Hälfte heißt in Bomans Fall LUZ und ist bunt gefärbte House-Melancholie. Eine mit dicken schwarzen Konturen gezeichnete Träne, welche die Plattenrillen entlang läuft.

16
THUS LOVE
Memorial
Captured Tracks

In einer Welt, die nicht mehr an Hits glaubt, denken Thus Love das Format Album als klassische Compilation. Als Versammlungszentrum für all die Songs, die als Banger auf die Welt kommen und Zweifel daran nicht zulassen wollen. Die klingelnden Post-Punk-Gitarren werden in Watte gehüllt, der Gesang breitet sich auf Hymnengröße aus und wenn irgendwo eine Nebelmaschine losgeht, darf auch das kein Zufall sein. Ein einziger großer Hit.

15
The Zenmenn & John Moods
Hidden Gem
Music From Memory

Natürlich, natürlich heißt das Ding HIDDEN GEM. Nachdem sich 2021 ihre erste Zusammenarbeit, der Song „Hommage To A Friendship“, zum tränenziehenden Inselsong meinerseits entwickelte, kam jetzt gleich eine ganze gemeinsame Platte an, wieder geboren aus losen Ideen, keinem klaren Ziel, sondern einem Gefühl. Ohne den Hauch eines doppelten Bodens, ohne Angst vor Kitsch. Loungige AOR-Balladen, Midnight-Lounge-Träumer, cheesy Soft Rock und so viel Soul. Ich muss es lieben.

14
Born Under A Rhyming Planet
Diagonals
DDS

„Auf den richtigen Moment warten“ – aber als Album. Jamie Hodge sitzt teils mehrere Jahrzehnte auf seiner Musik und musste von den Demdike Stare Boys fast dazu genötigt werden, ein Album rauszubringen. Mit „besser spät als nie“ würde sich die nächste Phrase an dieser Stelle ganz gut machen. Die Zeitlosigkeit seiner Arbeit lässt die Platte wie aus einem Guss wirken. Krautiger, analoger und teils zickiger, schleppend langsamer und technoider Ambient-Jazz, der sich knisternd ins Ohr legt.

13
Mabe Fratti
No Se Ve Desde Aqui
Unheard Of Hope


Was für eine Entdeckung. Fratti arbeitet mit in knarziger Atmosphäre badenden und von Improvisationen lebenden Kammer-Jazz-Dekonstruktionen, bei denen natürlich das Cello die Hauptrolle spielt und nicht selten die Richtung vorgibt. Aber innerhalb dieses spanischsprachigen jazzy Düsterpops hat sich ein so guter Supporting Cast aufgereiht, dass hier jede Sekunde zur ganz eigenen Entdeckungsreise wird. Ein mindestens bildschönes und maximal faszinierendes Album.

12
Molly Nilsson
Extreme
Dark Skies Association

Meine Synth-Pop-Wave-Königin mit ihrem neunten Album und noch immer erschafft sie diese Nebelmaschinen-Pop-Monster unterhalb eures Radars und jedes Jahr versuche ich das zu ändern. Auch auf EXTREME macht sie es sich in ihrer Nische gemütlich, die farbfreie und torkelnde bis hymnische DIY-Hits feiert und dieses Mal plötzlich 90s Rave und Metalgitarren auspackt. Wie immer sensationell. Das Wichtigste noch zum Schluss: Im beiliegenden Zine zum Album wurde ich namentlich erwähnt und verewigt (Gönnt mir das).

11
black midi
Hellfire
Rough Trade

Das dritte und natürlich fantastische Album des musikalischen Streber-Trios klingt nach feuerroten Gitarren, GTA 5 Talk Radio, Ready 2 Rumble Boxing auf dem Nintendo 64, nach der einen Flamenco-Stunde, die ihr mal gemacht habt, nach dem Grashalm, den ihr einen Tag im Mund hattet um Lucky Luke zu spielen, nach der letzten Träne, die ein soeben Verlassener in der hintersten Ecke deiner Lieblingsbar auf den Tisch tropfen ließ. Aber vor allem ist es der Schweiß auf der Stirn des Las-Vegas-Sängers, der umringt von Tänzer*innen in seinem leuchtenden Jacket die Nacht seines Lebens hatte. Ich liebe diese Band so arg.

10
Carla dal Forno
Come Around
Kallista Recordings

Auf ihrer bislang besten Platte variiert die Australierin im Detail. Ihre hauptsächlich schummrig-schunkligen Minimal-Post-Punk-Chanson-Gespenster zeigen im siebten Jahr in Folge, wozu Pop in der Lage sein sollte, wenn als Referenzpunkte die Young Marble Giants oder die ersten 30 Katalognummern von Blackest Ever Black herhalten dürfen. Hier und da ein mokantes Lächeln unter der kleinen Bass-Melodie, ein subtiler Mittelfinger und Humor, der sich durch den Hall bohren muss, aber bei erfolgter Ankunft im Ohr für noch mehr Freude sorgt. You are auch on my mind.

09
Whatever The Weather
Whatever The Weather
Ghostly International


Hier schreibt jemand, für den sich 25° genauso anfühlen wie 40° und der sich deshalb beim Konzeptalbum von Loraine James dieses Jahr besonders wohlgefühlt hat. Abseits der Temperatur-Klischees sieht auch ein nach 36° benannter Track seinen Atem und fröstelt sich durch zwei Hände voller knusprig-knarzender IDM-Tracks. Zischend-flirrende Electronica wie dieser eine Sonnenstrahl, der in der Mittagssonne blendet, bevor nach fünf Minuten dann doch lieber eine Mütze über die Ohren gezogen werden muss. Kein Track auf diesem Album, der hastig aufgeklappte Bierbänke evoziert, sondern sich um ein neues Verständnis für den Klang des Wetters schert.

08
Brainwaltzera
ITSAME
FILM


In einer besseren Welt hätte die Super-Mario-Referenz im Titel dieser Platte für einen Score-Auftrag beim neuen Film gesorgt, der mich mit Chris Pratt versöhnt hätte, aber gut. Durch Brainwaltzera stand erneut fest: Wer sich Monat für Monat beim Durchforsten neuester Releases der Illusion hingibt, Musik müsse Innovationspreise gewinnen, wird die
Segel streichen müssen und verpasst die 75-minütige Einweisung des italienischen Tanzlehrers in all things Braindance. Ein Album, das am Rad der Zeit dreht und sich NATÜRLICH Inspiration bei den Mid90s WARP-Platten von Herrn James oder Plaid holt, aber sich mit Bass-Sounds und sogar Dream Pop erfolgreich an der eigenen Version seiner Vorbilder versucht.

07
Jockstrap
I Love You Jennifer B
Rough Trade


Wie man den bratzig-knarzigen Alles-Mögliche-Pop auf der sensationellen Wicked City EP noch hätte steigern sollen, ich hatte keine Ahnung. Vom Lounge-Pop zum hastig programmierten 16-Bit-Musical, vom Glitchy Future-Pop zum Post-Genre zwischen Songwriter-Lieblichkeiten, noisigem Indie, Chamber-Weirdness und ein bisschen Electro-
Clash. Georgia Ellory, die als Black Country, New Road-Sechstel ohnehin bei mir ein Stein im Brett hat, textet sich dabei durch Madonna-Referenzen, Selbstliebe, physische Selbstliebe und dann wäre da noch „Greatest Hits“, der wahrhaftig greateste aller Hits. Ich sage es immer wieder: Chaos und Pop gehören einfach zusammen. Jockstrap spielen die perfekten Eherschließer*innen. Was für ein Album.

06
Smoke Point
Smoke Point
Geographic North


Ich hatte Ambient schon abgeschworen, dann trifft mich dieses ursprünglich für eine Ausstellung kreierte Monstrum voller pluckernd-schwebender House-Loops, rhythmisch fesselnder Momente und diesen zarten Ansätzen von Beats mitten in Herz, Hirn und Hintern. Manchmal operiert diese Platte in den nebeligen Zwischenwelten alter Bass-Musik, nur um im nächsten Groove heimlich ein Flugticket für schweißnassen Tropical-House zu buchen. Obligatorische New Age-Annäherungen gehören zum guten Ton und davon hat diese Platte eine Menge. Zufallsfund, den ich niemals missen möchte. P.S. Bitte nicht mit dem gleichnamigen E-Zigarettenladen in Düren verwechseln.

05
Salamanda
Ashbalkum
Human Pitch


Das koreanische Duo spielt Musik im klassischsten Sinne der Vergnügung. Aus purer Freude. Perkussive Avantgarde- und Ambient-Musik, die sich treiben lässt und an keinem Ort länger als nötig verweilen will, weil zwei Rhythmen weiter wieder etwas leuchtet. Panflöten, Xylofone, Vibrafone, Stabspiel-Instrumente und Klangstäbe. Musik, die leicht und zerbrechlich wirkt, aber dabei so kunstvoll arrangiert und komplex wirkt. Wieder so ein Album, das man in diesem Jahr irgendwo verstanden hat, aber dann doch hinter deinem Rücken anfängt zu lachen. Jeder Song eine Überraschung, auch beim hundertsten Durchgang.

04
Lucrecia Dalt
¡Ay!
RVNG. Intl.


Reduzierte Sci-Fi-Kammermusik der Kolumbianerin, die mysteriöse spanische Texte zwischen düster-tropische Synth- und Bolerosounds schlängeln lässt. Manchmal geht es um Außerirdische und Felsen, aber was macht das schon. Musik, die es sich an verschiedenen Polen gemütlich macht, ungeheuer offen für Melodien, aber in Sachen Umsetzung so far out, wie es nur irgendwie geht. Jeder Song hat dabei das gleiche Set an Möglichkeiten. Ob Querflöte, Percussions, Kontrabass, Trompete, alle stehen sie um Dalt herum, während sie die knarzige Bühne bespielt und besingt und dann wandert immer ein Element zu ihr auf die Bühne, wenn es gerufen wird. Dieses Album wohnt mittlerweile in mir. Ich will es nie wieder ausziehen lassen. Unfassbar, das alles.

03
deathcrash
Return
Untitled Rec.


Die ruhigste meiner neuen London-Bands. Von Emo und Slowcore. Vom Mut zur Lücke in den Songs. Von der bewussten Entscheidung, mal vom Gas zu gehen. Selbst der emotionalste Ausbruch kommt mit einer Wall of Tears, während die teils gehauchten Vocals sich mit den zerbrechlich wirkenden Gitarren vereinen. Das Album ist nicht betont nostalgisch, es kann gar nicht anders. Das Genre kann nicht anders. Gefühlte Erinnerungen kommen auf, ganz unabhängig vom Inhalt der Songs klingt alles nach dem letzten richtigen Sommer bevor das Leben beginnt. Nachdem wir aus den gelben Schulbussen gestiegen sind und uns ein neues Deck kaufen wollen. P.S. Der perfekte Nachfolger zum EP-Meisterwerk des Jahres 2020.

02
Shoko Igarashi
Simple Sentences
Tigersushi Records


Wäre das eine längst vergessene und vor kurzem von Light In The Attic aufgestöberte Platte gewesen, es hätte mich auch nicht gewundert. Die Japanerin verbindet die Soundästhetik alter Anime-Intros mit Videogame-Menü-Sounds, bleependem Electro-Funk und schwebenden City-Pop-Tracks mit einer zum Grinsen animierenden Musikalität. Die
Tenorsaxofonistin hat eine Platte aufgenommen, die im angesagtesten Club jeder Animal- Crossing-Insel laufen müsste. Blubbernder, vaporwaviger Pop in ganz kleinen Buchstaben. Hier eine Flöte, da eine Nebelmaschine aus der Zuckerwatte kommt.

01
Black Country, New Road
Ants From Up There
Ninja Tune


ANTS FROM UP THERE ist das Album des Jahres, weil es wieder der Schlusspunkt einer Ära ist, die mich in den letzten, uff, fünf Jahren wie nichts anderes begeistert und begleitet hat. Es ist das Album des Jahres, weil es mir noch einmal gezeigt hat, wie unverschämt talentiert diese spektakulärste aller „Windmill“-Bands eigentlich ist und wie dankbar ich dafür sein muss, 2017 zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen zu sein, um ihre Vorgängerband Nervous Conditions im Vorprogramm zu sehen. AFUT ist das Album des Jahres, weil es als das zweite Debüt-Album durchgeht, das mir eben nicht das gibt, was ich von der Band seit der allerersten Single wollte und trotzdem umgehauen wurde.

Es ist das Album des Jahres, weil es im Gegensatz zur angsty eindringlichen Spoken-Word-Post-Punk-Klezmer-Extravaganza in eine neue Richtung geht und sich nicht nur durch die Instrumentierung intimer anfühlt. Weil die Texte sich nicht mehr auf popkulturelle Referenzen stürzen, sondern mit einer Zeitlosigkeit Geschichten erzählen, die einer sadboy-Version meinerseits auch in einem peinlichen Roman des 18. Jahrhunderts hätten passieren können. Weil der Zynismus einer Verletzlichkeit weicht, die auch durch kryptischste Passagen zu verstehen ist. Die zu fühlen ist.

Es ist das Album des Jahres, weil ich ihnen glaube, was sie mir vor einem Jahr im Interview erzählt haben. Nämlich, dass dieses Album so nicht entstanden wäre, wenn sie sich nicht so gute Freund*innen wären. Es ist das Album des Jahres, weil „Bread Song“, der inspiriert von Steve Reich ohne Taktangabe eingespielt wurde, mich durch Lyrics und Motive seit seiner ersten Live-Performance an alles erinnert, was an Fernbeziehungen nervt. Weil „Haldern“, diese umwerfende Improvisation, in einen Song ausgearbeitet wurde, der mal wieder ein bisschen zu sehr reletable daherkommt. Überhaupt, weil ich die Band so stark mit dem Festival verknüpfe. Weil „Snow Globes“, das seit Jahren live performte Edelstück der Setlists, in ein ausuferndes Chaos überführt wurde, das klingt, als würden sich zwei Songs parallel in der Schneekugel befinden, die ich beim Hören schütteln musste.

Und natürlich ist es das Album des Jahres, weil endlich „Basketball Shows“ veröffentlicht wurde. Der Song of all Songs. Der immer schon auf mehrere Phasen aufbauende 13-Minüter, dessen Einzelteile sich verstreut auf der Platte immer wieder finden lassen und den ich endlich nicht mehr als blechernen Bootleg hören muss. Es ist das Album des Jahres, weil ich mich noch einmal quer durch die Texte von Isaac Wood bewegen durfte, der die Band nach knapp 20 Songs und 5 Jahren verlassen wollte und verlassen musste. Weil ich aber trotzdem noch einmal das Glück hatte, die Band so live zu sehen, wie sie diese Songs erdacht hatte.

Weil ich aber auch die neue Band dieses Jahr sehen durfte. Natürlich auf dem Haldern. Und ich mich frage, wie oft ich noch davon sprechen werde, dass sie für das Album des Jahres verantwortlich zeichnen, weil die Zukunft der Band mit neuer Ausrichtung und neuen Songs, ich untertreibe vorsichtig, rosig aussieht. Weil ich diesen Sommer mit zwei Dutzend Leuten im Tonstudio von Haldern stand, in dem sie gemeinsam an den Songs arbeiteten, improvisierten, ausprobierten. Und alles funktionierte. Es ist das Album des Jahres, weil ich hier und heute nicht ausschließen kann, dass es niemals ein besseres Album gab oder geben kann.

Hier geht’s zu allen Review-Folgen des Podcasts im Jahr 2022, in denen wir die meisten dieser Alben ausführlich vorgestellt haben.

Alle wichtigen Links auf einen Blick

Christopher: Twitter / Instagram
Albert Koch: Instagram
Track17: Twitter / Instagram / Facebook

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