2023 // Jahresrückblick – Part 3: Christophers Top 50 Alben des Jahres

Teil 3 des Jahresrückblicks von Track17 mit den Top 50 Alben des Jahres von Christopher. Hier geht’s zu den Songs des Jahres und den Top 50 Alben von Albert.

Der Fahrplan:
12. Dezember: Alberts Top 50 Alben des Jahres
13. Dezember: Christophers Top 100 Songs des Jahres
14. Dezember: Christophers Top 50 Alben des Jahres
15. Dezember: Feature 44 – Track17: Der Jahresrückblick und die Alben des Jahres

50 – 46

50_ Shoko Igarashi – Project Tenori
49_ Joanne Robertson – Blue Car
48_ Salamanda – In Parallel
47_ Abyss X – Freedom Doll
46_ a.s.o. – a.s.o.

Während Shoko Igarashi nur ein Jahr nach ihrer Bubblegum-Muzak plötzlich ein uraltes Tenori-Instrument als Basis für trockene Electronica nutzt, konzentriert sich Joanne Robertson auf ihre brüchige Stimme, etwas Gitarre und etwas Rauschen. Salamanda feilen im zweiten Jahr in Folge an ihrem experimentellen Spieluhr-Pop, Abyss X doomt sich durch clubtauglichen, aber größtenteils drumlosen Alt-Rock und das viel beschworene Trip-Hop-Revival darf durch das Duo a.s.o. endgültig mal anfangen.

45 – 41

45_ Water From Your Eyes – Everyone’s Crushed
44_ Hilary Woods – Acts Of Light
43_ Marina Herlop – Nekkuja
42_ Forest Sword – Bolted
41_ Drone – Dance With The Devil

Water From Your Eyes spielen Musik mit Gitarren, die davon nichts wissen will – Humorvoller Art-Pop mit Attitüde, aber eben auch Melodien. Hilary Woods darf dank ihrer kompromisslosen Ambient- und Drone-Mischung endlich mal Teil dieser Liste werden, während Marina Herlop sich mit zickig-zarter Electronica und Theater-Pop endgültig einen Stammplatz in jener sichert. Forest Swords tauscht seinen düsteren Spghetti-Dub gegen düsteren Sample-Folk und Drone quetscht sämtliche Britbass-Genres von Grime bis Bass in ein hervorragendes, brummendes und für den Keller bestens geeignetes Album.

40 – 36

40_ Danny Brown – Quaranta
39_ De Ambassade – The Fool
38_ Avalon Emerson – & the charm
37_ Culk – Generation Maximum
36_ Andre 3000 – New Blue Sun

Rapper Danny Brown verzichtet auf seinem introvertiertesten Album auf Musik, die klingt, als reiße man sie aus einem Comic-Heft, zeigt aber auch, wie gut ihm das steht. Ebenso farblos kommt die neue De Ambassade um die Ecke, der wieder so klingt, als habe dein Lieblingslabel einen 40 Jahre verlassenen Keller aufgestemmt, um krustigen Cold Wave aufzusammeln. Raus aus dem Techno-Club und rein in den Indie-Club ging es überzeugend für Avalon Emerson und Band, während Culk die mit Abstand beste deutschsprachige Post-Punk-Band bleiben. Das stärkste künstlerische Statement kann 2023 nur das Ambient/New Age/Flöten-Album der immer kreativen Outkast-Hälfte Andre 3000 sein.

35 – 31

35_ bar italia – Tracey Denim
34_ Echt! – Sink-Along
33_ The Streets – The Darker The Shadow The Brighter The Light
32_ Mandy, Indiana – i’ve seen a way
31_ Voice Actor – Fake Sleep

bar italia dürfen froh sein, erst in diesem Jahr ihr erstes Album veröffentlicht zu haben, Tarantino hätte ihre Musik für mindestens drei Filme verpflichtet. Den Namen Echt! ohne Ausrufezeichen liest man gerade häufiger, es soll ja sogar Musikpodcasts dazu geben, mit Satzzeichen geht’s nach Brüssel zu abgefahrener instrumentaler Beat-Musik. Zu Mandy, Indiana stampft es sich genüsslich durch die 2000er Disco-Punk-Disco, während sich kaum eine Platte so sehr für unsere Kategorie “andere musik” qualifiziert wie die auf Albumgröße geschrumpfte Avantgarde-Beat-Welt von Voice Actor.

30
Lost Girls
Selvutsletter

Smalltown Supersound

Die Norwegerin Jenny Hval funktioniert für mich im Kontext ihres Duos einfach am Besten. Leicht discoide, elektronische Pop-Musik, immer aber hinter einem leichten magischen Schleier. Dieser ist aber zum Glück dünn genug, damit Melodien und Ohrwürmer knapp hindurch passen. Man kann das schon Songstruktur nennen, was da passiert, muss aber auch nicht.

29
Ciel
Homesick

Parallel Minds

Die in Kanada lebende, gebürtige Chinesin Ciel hat nach einigen EPs, Singles und DJ-Auftritten ihr erstes, wunderbares Album vorgelegt. Es ist eine Platte, die elektronische Tanzmusik feiert und vor allem mit ihr feiert. Euphorische Dance-Tracks wie „Gourd“ erlauben sich einen verspielten, blubbernden Bass, der zwischen den Beats und Vocal-Samples um Aufmerksamkeit buhlt und stellvertretend für viele Ideen dieser Party steht, die den Club endlich wieder etwas bunter streicht.

28
Jessy Lanza
Love Hallucination

Hyperdub

In den letzten zehn Jahren hat die Kanadierin Jessy Lanza ihre hell leuchtenden Pop-Hooks in die interessanteste Club- und RnB-Musik geschleust. Ihr trojanisches Pferd hat viele Gesichter. Zum Beispiel ihr Label Hyperdub, seit Gründung dafür bekannt, britische Bass-Musik neu zu definieren, sich dabei aber den 80er und 90er Jahren in Sachen RnB und Hochglanz-Pop zu nähern. Lanza hat das nun auf ihrem vierten Album nahezu perfektioniert. Glänzender Disco-Pop stellt sich selbstverständlich neben 2-Step und Rave-Songs, Club und Schlafzimmer gehen bei ihr Hand in Hand.

27
Love Remain
Still In Awe

SNDWNR

Fragt mich nicht, wer das sein soll oder wo das Geld herkommt. Aber wenn ihr mich fragt, wonach ich in Musik regelmäßig suche, dann nach diesem Mix aus Spät-00er Bassmusik, bei der die Leute hinter den Beats ihre 90s-RnB-Vergangenheit aufarbeiten und versuchen aus Burial Pop zu machen. Sehr retro, sehr gut. Post-Dubstep zwischen early James Blake, Hessle-12″s und RnB. Das dürfen gerne auch andere mal probieren.

26
Otik
Cosmosis

3024

Von langer Hand geplant, ewig angekündigt, endlich da. Das Debütalbum des Musikers Otik, der auf das Label des niederländischen Dubstep-Pioniers Martijn Deijkers perfekt passt. Der Sound bewegt sich zwischen traumhaften Breaks, Bass- und Garage-Momenten und fühlt sich zwischen 1995, 2008 und 2023 besonders wohl. Beeindruckend, wie das auf Albumlänge funktioniert.

25
upsammy
Germ in a Population of Buildings

PAN

Was für eine Reise. Gerade das Track-Trio “Patterning” mit seinem zarten Old-Skool-Four-Tet-Beat und den “wow”-Samples, das etwas technoidere “Asphalt Flowers”, das auf eine verspielte Art wirkt, als würde es rückwärts abgespielt werden und der Aphex-Twin’eske Leierkasten “Soft Sand” ist ein fast sensationell stilsicherer Run auf einem Album, das den blubbernd glitchigen Sound des Vorgängers noch weiter ausdefiniert.

24
Niecy Blues
Exit Simulation

Kranky

Der verhuschte RnB, der extrem von Ambient-Musik und Drone gelernt hat, baut Blues einen flächigen Sound, der als Spielplatz für ihre in Hall getunkte Stimme dient, auf dem sie immer mal wieder aus Songkonventionen auszubrechen versucht, um schlicht drauflos zu singen. Das funktioniert und am stärksten ist sie, wenn sie sich auf ein klares Konzept fokussiert, wie im wundervollen „Violently Rooted“. Dort spielt sie mit einem Rhythmus, der ihr den Weg für eine Melodie ebnet, die nicht mehr aus dem Kopf will.

23
Andrea
In Colour

Ilian Tape

Wir haben bei Track17 das Breakbeat-Revival jetzt häufiger ausgerufen, aber Andrea, dessen erste Releases noch seine Nähe gesucht haben, ignoriert das mit einem Album, das mit seinem Cover zwar trockene Hitze suggeriert, aber stattdessen das Licht ausknipst und ins in einen schwitzigen Club für Dark Jazz, IDM und Minimal steckt. Erinnert manchmal an die grimmige Schwester eines Jan Jelinek-Albums.

22
DJ Panthr
Jade District

100% Silk

Die Lo-Fi-DIsco-Euphorie des Labels hat hier Pause. Panthr nutzt das Album als Spielweise für atosphärischen Ambient-IDM, der das Kalenderblatt seit den späten 90ern nicht weitergeblättert hat. Fast trancige Bässe und Breakbeat-Momente breiten sich aus, dabei bleiben die Tracks stets in Bewegung, wirken fast elegant. Clean, geschmeidig, aber trotzdem schlummert ein Hauch Acid-House in den Tracks, ohne zu breatzig zu werden.

21
Ly Trang
Syenite

Subtext

Ein wundervolles Klong-Ratter-Hauch-Zupf-Zisch-Album. Die Platte begrüßt uns mit einer Art Audio-Tech-Demo, die man sonst aus dem Kino kennt, um uns zu zeigen, wie geil der Surroundsound ist. Schabende, spooky Klänge, ein güldenes Rascheln, Störgeräusche, Klanginstrumente, ein düsteres Windrauschen, das sich seinen weg durch hängende Glocken bahnt. Und plötzlich der Rhythmus, der das alles zusammenhält. Highlight: Auf „so, flag on flag“ beginnt wieder ein unscheinbarer Sound-Mix, der in einem knusprig-knisternden Beat aufgeht, der in den vernebelten Gesang von Trang schneidet, der kaum noch als gesungener Text wahrzunehmen ist.

20
Saeko Killy
Morphing Polaroids

Bureau B

Könnt ihr mir vielleicht einen Club nennen, in dem diese Musik gespielt wird? Ich will dazu tanzen. Oder so tun, als würde ich tanzen, weil ich mich von dieser Musik verknoten lassen muss. Krautig-dubbige Songs. Dabei ist es so sehr abseitige Club-Musik wie es Pop ist. Downbeat und Dub in Stimmung, Post-Punk in Attitüde und Krautrock im Sound. Fünf von fünf mit trockenem Staub verklebte Sonnenbrillen.

19
Squid
O Monolith

Warp

Ach, Squid. Was könnt ihr nicht? Zum dritten Mal ein kleiner Reset im Sound. O MONOLITH ist ein dichteres Album. An manchen Stellen ist es lauter, proggiger, an anderen hochgradig merkwürdig und aus der Zeit gefallen. Das Album zeigt kein Interesse daran, die vielen Melodien nur einem Zweck zuzuführen. Stattdessen schichtet es sie auf oder lässt sie nach krachenden und verwirrenden Momenten als Pausenfüller oder zur Beruhigung antreten. Inhaltlich wirft die Platte dabei viel durcheinander – Edgar Allan Poe auf der einen Seite, die Hochzeit einer britischen Talkshowmoderatorin auf der anderen. Passt.

18
Der Assistent
Der Assistent

Papercup Records

Ich schmelze dahin. Der Fotos-Sänger lässt sich als Assistent auf softe dubbige Off-Pop-Musik ein, die im kühlen Licht deines liebsten Spielautomaten die große Romantik findet. Wenn es 2023 auch nur eine “Botschaft” gab, “die Trost schafft”, dann dieses kleine, viel zu kurze Album, das mir ungefragt eine Zigarette ansteckt, bevor es mir einen Cocktail ausgibt. Komplett großartig.

17
Kate NV
WOW

RVNG. Intl.

Was haben Videogames und Musik gemeinsam? Man spielt sie. Man spielt Musik. Und das ist vermutlich bei niemandem so buchstäblich zu sehen wie bei KATE NV. “WOW” ist jetzt ein Album über und voller Videospielmusik. Es sind bunte, leichtfüßige Electrobeats, die oft instrumental daherkommen. Manchmal werden sie von Nicht-Songs, Nicht-Lyrics und Nicht-Strukturen bevölkert und existieren in einer Parallelwelt, die sich nicht um die musikalischen Regeln schert, die Pop angeblich einzuhalten versucht. Auch live ein Ereignis.

16
Erregung Öffentlicher Erregung
Speisekammer des Weltendes

Schlappvogel Records

Der vierte Release meiner liebsten deutschen Band ist Referenzmusik, er ist Popkulturmusik. Das ist die Verhandlung vom blanken Sein angesichts der eher düsteren Zukunftsaussichten des Planeten, eingebettet in kulinarische Bilder. Diese hängen in einem Museum der Zwischenmenschlichkeit und Perspektive und werden dort von uns betrachtet. Von uns, die ja auch nicht ganz wissen, wo man hin soll. Und auch das war eine Referenz.

15
Titanic
Vidio

Unheard Of Hope

Letztes Jahr kam der kammerartige, spanischsprachige Knarz-Pop der Cellistin Mabe Fratti für mich aus dem Nichts. Zugänglicher, fast folkig-poppiger, aber immer noch mit genügend arbeitendem Holz versehen ist ihr gemeinsames Projekt mit Héctor Tosta. Da knallt auch gerne mal die Sonne rein, wenn Piano, Cello und Schlagzeug anfangen, mit den Melodien zu tanzen und sich dabei auch Jazz-Strukturen annähern.

14
deathcrash
less

untitled (recs)

Das ohnehin nur in Eierschalen gekleidete Gaspedal wird auf dem zweiten Album dieser ruhigsten meiner neuen London-Bands noch etwas zurückhaltender betätigt. Das begrüßen die spärlich eingesetzten und teils lediglich gehauchten Vocals, die vor den Gitarrenwänden kapitulieren, welche sie genrebewusst ans Ende vieler Songs packen. Diese behauptete und vergängliche Power steht der Musik in den richtigen Händen, und deathcrash sind als Architekten der stets einsturzgefährdeten Emo-Bunker momentan die stilsichersten Bauherren, die man finden kann.

13
Loraine James
Gentle Confrontation

Hyperdub

Was oft als Emo-Electronica bezeichnet wurde, ist für mich astreiner Future RnB, der mühelos mit den RnB-Produktionen dieses Jahrzehnts mithalten könnte. Ein Beispiel ist “LET U GO”, ein smoother Beat, wie ich ihn die letzten 30 Jahre gerne mitgenommen habe, aber hier umgeben von schabenden und zitternden Sounds, während die Vocals verfremdet werden und nie ganz klar ist, woher sie kommen oder wer sie singt. Ein Album über das Teenagersein, über das früher und das gestern, obwohl es so klingt, als müssten die Menschen noch geboren werden, die sich an diese Musik erinnern können.

12
AFAR
The Refuge

Laut & Luise

Afar, das sind Elena und Joseph. Ihr Sound ist getragen, akustisch, verhallt, elektronisch. Er ist langsam, mysteriös, geheimnisvoll und schlicht wunderschön. Zwischen den Drum Machines und den elektrischen Gitarren dann diese Stimme. Mal verhallt, mal gespenstisch, dann wieder tief. Aber immer hypnotisch. Sie bezeichneten sich selbst als einne analogen Live-Act. Das passt, denn auf ihrem für mich dritten Album klingt alles nach einer Live-Aufnahme. Ein Konzert, das jedoch nur für mich gespielt wurde. Ich nehm dich aber mit, ist doch klar.

11
Rezzett
Meant Like This

The Trilogy Tapes

Rezzett fasziniert mich, weil das Duo, bei dem der gleich noch auftauchende Lukid ein Teil ist, diese schabende, kratzbürstige Musik so verdammt funky macht. Es handelt sich um verrauschte, brummende, noisige Musik, vertrackt und harsch. Für Trilogy Tapes brauche ich die richtige Stimmung, aber die Musik von Rezzett schafft das problemlos. Die Katalognummer 100 des Labels von Will Bankhead ist schroffer “leck-mich”-House aus einer Fisselwelt, die auch Actress gerne als Nachbarn hätte. Verzerrte Breaks, Kickdrums, die mit jedem Schlag in eine Ölpfütze treten, verrottete Rave- und Jungle-Momente – Musik so farblos wie fies.

10
Martinou
Chiral

Nous’klaer Audio

Martinou ist herausragend darin, seinem Deep- und Dub-Techno eine Dynamik “aufzuproduzieren” (ja, das Wort gibt es nicht). Eben das, was mir so oft in dem Genre fehlt, hier peitscht es mich durch das komplette Album. Über insgesamt neun Tracks präsentiert er sehr geradlinige, aber tiefgehende Musik, die sich mit Beats, Flächen und kleineren Melodieelementen passend in die Herbstzeit einfügt.

9
Pose Dia
Simulate Yourself

R.i.O. Label

Pose Dia ist die interdisziplinäre Künstlerin Helena Ratke, die sich zwischen Film, Musik, Performance, DJ-Tun und vielem mehr bewegt. Als Pose Dia macht sie Musik, die ich nur lieben kann–Cold Wave infizierter Leftfield-Pop, der sich das Geschehen von draußen betrachtet und seine eigenen Schlüsse aus dem Thema Melodie und Catchiness zieht. Synth und Cold Wave prägen die Musik. Klappernd, ratternd, sich windend, ungerade und geheimnisvoll – elektronische Musik irgendwo zwischen kauzig, kneifend, unangenehm und trotzdem unglaublich eingängig.

8
Chunky
Somebody’s Child

Eglo Records

Chunky ist eine der prägendsten Figuren der Bass- und Grimeszene Manchesters und begann seine Karriere als MC für das von mir damals sehr geliebte Label Swamp81. Das Warten auf sein erstes eigenes Album war lang, hat sich aber gelohnt. Dreckiger, minimalistischer Grime, der mehr von Bassmusik als von Hip-Hop gelernt hat. Da ist eine wahnsinnige Leichtigkeit in der Musik. Chunky denkt den Club, das Radio, das Sofa, den Beifahrersitz und den Kopfhörer mit. Das ist laid back und aufdringlich zugleich.

7
Lukid
Tilt

Glum

Das erste Lukid-Album seit elf Jahren. Trotz der Arbeit mit Rezzett und starken EPs, wurde es Zeit. Die Beats und Nicht-Beats der 10 Tracks sind Annäherungen an verschiedene Genres wie House, Glitch, IDM, Bass und Rave. Greifen aber nie zu. Die Musik schwirrt um Partys herum. Für die After-Hour ist sie zu hektisch, für die Party selbst zu experimentell und in einer Antihaltung verfangen, die sie spannend macht. In ihrer leiernden, schroffen Digitalität sind die Tracks des Produzenten aus Manchester zerfranst und verkrustet. Lukid, und deshalb ist er seit nunmehr 16 Jahren einer der besten unter den besten, kann diese kleinen Synth-Spuren wie ein helles Flackern wirken lassen, das den klapprigen durchbricht und den Schmutz abreißen lässt.

6
Actress
LXXXVIII

Ninja Tune

Ich spiele das durchaus gerne, aber wenn ihr mich fragt, wie ich das Schach-Konzept der Platte und die von Darren Cunningham herangezogene Spieletheorie auf das achte Actress-Album übertragen soll, dann müsst ihr alleine klarkommen. Wobei: Könnt ihr jeden neuen musikalischen Zug von Actress vorhersagen? Ich nicht. Hier leben die typisch verrauschten und dekonstruierten House- und Techno-Tracks von einer Kernidee, die er dezent variiert. Aber in Actress-typischer Manier schafft er es immer und immer wieder genug Funk in den Maschinenraum zu schleusen. Groß.

5
Loopsel
Öga For Öga

DFA

Zarte, pluckernde Sounds, diese in einen Nebel getauchte Gitarre, die verhallte Stimme, die nicht nur aufgrund der Sprache Dinge erzählt, die ich nicht verstehen kann. Und ja, das funktioniert auch an einem Samstag, an dem die Sonne meint, durchs Dachfenster scheinen zu wollen. Dürfte nur ein Song bleiben, es ware das sensationelle und in Understatement badende „Skammen“. Musik, die dich in einen Wald zieht, den du vor lauter Nebel-Folk-Perlen nicht mehr sehen darfst. Musik wie eine Jahrmarktsgeisterbahn, die plötzlich Gitarre spielen lernt.

4
Marlene Ribeiro
Toquei No Sol

Rocket Recordings

Psychedelic- und Synth-Folk (ich weiß es doch auch nicht) wäre das Genre, was ich in iTunes hacken würde, müsste ich das tun. In einer besseren Welt, würde die Portugiesin für diesen Grünpflanzen-Pluckerpop deutlich mehr gefeiert werden. Muss ich eben ran. Musik im ständigen Fluss mit wabernden, tupfenden minimalistischen Drums, einer Stimme, die sich nicht vor den Vorhang traut, kleinen rhythmischen Motiven, die stattdessen die Hauptrolle spielen – und das alles so wunderschön. Das Album beginnt mit Field Recordings, Vogelgeräuschen, ansteigenden digitalen Streichern und etwas, das wie eine Mischung aus Autoverkehr, Meeresrauschen und einem in Schönheit sterbenden Akkordeon klingt – es ist jedoch eine Oboe –, bevor ein Nicht-Beat die gehauchte, in Silben singende Geisterstimme von Frau Ribeiros Großmutter. Der beste Song aber: „You Do It“. Dieser zieht eine kleine Melodie durch den pluckernden Drumbeat, die in einem anderen Song zu einem Ohrwurm-Feuerwerk wachsen würde. Hier nimmt der Song einen an die Hand und dreht uns auf der Tanzfläche von einer Ecke in die andere.

3
Laurel Halo
Atlas

Awe

Ich kriege meine Augen kaum noch auf. Wie auch? Seit knapp einem Tag unterwegs, sitze ich in der Maschine, die mich zurück aus New York nach Amsterdam bringt. Nachtflug. Uhrzeiten, Zeitzonen. Alles verschwimmt. Der Körper hört auf nichts mehr. Außer der Musik. Während um mich herum fast alle schlafen, döse ich vor mich hin und mache es mir in dieser halb wahrnehmbaren Zwischenwelt gemütlich, während einen Sitz weiter rechts in der Reihe vor mehr jemand John Wick 4 schaut. Ich sehe also im Semi-Delirium wie Keanu Reeves Tausende Kilometer über der Erdoberfläche seine Feine perfekt choregrafiert in einem Berliner Techno-Club verdrischt, während Laurel Halos halb improvisierten Ambient-, Piano-, und Jazz-Skizzen stets kurz davor sind in einen Alptraum abzudriften.

Ein überragendes künstlerisches Statement einer Künstlerin, die niemals anzukommens cheint. Und das ist ein Kompliment. Keine Platte, die in einem durchrauscht und mit nur geringen Variationen eine Aufgabe verfolgt. Nein, das sind Songs. Elektroakustische Musik, die diese Zwischenwelt bewohnt, in der sich die Instrumente mit Technik vertragen müssen und in Zeitlupe aneinander anklagen.

2
Decisive Pink
Ticket To Fame

Fire Records

Ich geb’s ja zu, „Ticket To Fame“ ist das Album, das ich eigentlich von Kate NV erwartet hätte, ginge es darum, den „logischen“ Nachfolger zu ROOM FOR THE MOON zu finden,. Das ist diese Form vdes weird-verspielten, satt groovenden, unwiderstehlichen, abseitigen Verständnisses von Pop, das bitte wöchentlich erscheinen darf. Flöten, die uneingeladen über einen quietschenden Bass rutschen, Samples, die entweder aus Spielzeugkästen zu stammen scheinen oder dadistische Überkunst sein dürfen – oder beides. Dazu hell erleuchtete Melodien, die im besten Sinne dieses einen Japano-RPG begleiten dürfen, das ich in den Sommerferien 1998 durchgespielt habe.

Kate NV singt, spielt und quatscht (im Sinne von macht Quatsch) mit Dirty-Projectors-Sängerin Deradoorian und benannte das Projekt Decisive Pink nach einem Kunstwerk des russischen Künstlers Wassily Kandinsky, der für seine abstrakte Kunstwerke bekannt war Diese kann man mittlerweile in Massen auf einschlägigen Normcore-Online-Portalen kaufen, um jedes Wohnzimmer der Welt gleich individuell erscheinen zu lassen. Trotzdem ist das namensgebende Stück ein sehr formenstarkes, eines, das die Blicke auf zig Elemente zugleich lenkt. Kaum hat man sich eingebildet, das erste verstanden zu haben, verwirrt und bezirzt einen das Nächste. Und so ist es eben mit dieser formidablen Pop-Musik.

1
Natural Wonder Beauty Concept
Natural Wonder Beauty Concept

Mexican Summer

Dieses Album zerfällt in seine Einzelteile, wenn du es nur schief anschaust oder einmal zu fest pustest. Es wirkt zerbrechlich, als würden sich die beteiligten Musiker*innen (Ambient- und House-Produzent DJ Python und die Experimentalkünstlerin Ana Roxane) in den Songs verstecken wollen. Beide Stimmen verkriechen sich in der minimalistischen Musik, wodurch die Platte wie ein gerade entdecktes Geheimnis wirkt. Dieses „Das kann nicht funktionieren, tut es aber trotzdem“-Ding ist ein kleines, abseitiges Meisterwerk zwischen windschiefer, elektronischer Pop-Musik, nostalgischem Jungle und RnB-Musik, die mit nichts zu tun haben möchte, was man heute als modern bezeichnen würde. Ich versteh’ das alles nicht, vielleicht kommen wir dem am Ende dieses Textes etwas näher.

Kaum ein Ton wirkt beim ersten Hören so, als sei er am richtigen Ort platziert. Aber nach und nach entfaltet sich ein bemerkenswert dichtes und introvertiertes Album, das ich bei all dem Lärm da draußen gut gebrauchen kann. Vielleicht darf die Binsenweisheit „weniger ist mehr“ doch noch eine Ehrenrunde drehen. Dieses halbe Nicht-Singen, dieses „gerade so“ aus dem Fenster lhenen, was jedem Song innewohnt. Wenn die Stimmen sich zum Nötigsten aufraffen und verhindern wollen, dass hier echte Pop-Musik entsteht, wenn Momente von Rave und Exzess als letztes Echo in den Leerstellen von Songs wie dem Titeltrack zu Nebel werden. Ich wohne in dieser Musik und werfe den Schlüssel weg.

Ich frage mich bei solchen Duetten immer: Warum? Nicht in einem suggestiven Sinne, sondern eher im Sinne von: Was soll das überhaupt? Wo docken die Menschen künstlerisch an? Das große Geheimnis der Platte, finde ich: Python und Roxane treffen sich hier an einem Punkt ihrer Musik, den sie sonst nur anreißen. Python ist normalerweise zu sehr im Beat, schraubt verschleppte Bass- und Drum-Musik, Roxane ist normalerweise sehr im Ambient/New Age-Gefilde unterwegs. Python nutzt gerne Vocalsamples, Roxane hingegen ansatzweise tanzbare Rhythmen. Wie sich hier ihre Geschwindigkeiten annähern, die Art, wie die Stimmen sich den Beats anpassen – sie mussten sich an dieser Stelle ihres Schaffens treffen, das war fast unausweichlich,. Das Album musste entstehen. Und es musste mein Album des Jahres werden.

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